„schwarz!“, Gabriele Hartmann, Haibun, Tanka, Sequenz und Haiku im Kontext, 17 Schwarz-weiß-Abbildungen
Softcover, A5, 100 Seiten, 2013
Rezension Rüdiger Jung
Ganz recht: das
Zwinkern des linken Auges auf der Titelcollage gehört zu einem Werk Gabriele
Reinhards aus dem Jahr 2011, die heute Gabriele Hartmann heißt. Wer das mit G.
Hartmann (sprich: Georges) in Zusammenhang bringt, liegt richtig. Überaus
poetisch erschließt sich das im ersten Haibun des Bandes, „zusammen“ wo die
Kundin in Begleitung die klärende Frage einer Verkäuferin beantwortet:
„Gehören Sie zusammen?“ fragt sie über
meinen Kopf hinweg.
„Ja“, lächle ich und dreh mich um.
Literaturgeschichtlich hat das Haiku einen Kontext, dem es entstammt: die
Renku-, die Partner-, die Kettendichtung. Isoliert machte es weltweit Karriere.
Gabriele Hartmann überführt es nun aufs Neue in Kontexte: die Haibun-Prosa, das
ältere Tanka (das das Hokku in ein Matsuku münden lässt), die Sequenz nach Art
des Rengay von Garry Gay (die sich als Partnerdichtung wie auch als
Solistenstück geriert), das „Haiku im Kontext“ (das Zitate weniger
interpretiert denn meditiert). Nicht zu vergessen: das Haiku als Gegenüber
Bildender Kunst (etwa der Collage), wo zwei Künste oder Ausdrucksformen sich
ohne Assimilationszwänge auf Augen (und Zungen!) -höhe begegnen.
Zunächst erweist sich Gabriele Hartmann als Meisterin des Haibun. In „etwas
Farbe“ klingt die Erfahrung von Thomas Manns Romanheldin Antonie Buddenbrook in
Travemünde nach, dass Quallen ebenso faszinierend wie fragil sind! Das Haibun
nimmt die ebenso verblüffende wie stimmige Wendung hin zu der Sonne auf Japans
Nationalflagge. Ein weiteres Haibun „mit drei Steinen“ bezieht Sudoku ein als
Areal von Haiku-Zeilen, die letztlich unterschiedliche Kombinationen zulassen.
Das Haibun „Schweiz“ erörtert auf hohem literarischem Niveau ethische Fragen an
der Grenze zu Alter und Tod. „die Reise“ führt Mensch und Tier letztlich
im abschließenden Haiku aufs Schockierendste in der Weise des indischen
Tat-twam-asi („Das bist du!“) zusammen.
Bei „Herzklopfen“ empfände ich den Spielraum des Haiku größer ohne den (wenn
auch äußerst knappen) Haibun-Kontext. Der eindringliche und empathische
Titeltext „schwarz“, aber auch das berührende Porträt „Feuer und Wasser“
(werfen die Frage auf, ob nicht in der Prosa-Autorin Gabriele Hartmann auch
unabhängig von Haibun ein großes erzählerisches Potential auf Verwirklichung
drängt. Überaus formbewusst geht Gabriele Hartmann mit der Gattung Tanka um.
Geisterhaus Nr. 6
leere Fenster
und der Kastanienbaum
mir gefällt
die Stimme
des Jungen von einst
Isoliere ich gleichsam als Experiment im Tanka das Hokku, gewinnt die dritte
Gedichtzeile „mir gefällt“ eine ganz neue Konnotation: In eben dem Maß, in dem
„gefällt“ nun auf den „Kastanienbaum“ zurückstrahlt, wird das lyrische Ich mit
dessen möglichem Ende konfrontiert und kontextualisiert: „mir gefällt“
sinngemäß als „für mich gefällt“.
Die künstlerische und literarische Empirie begegnen einander in
Aquarell
Forsythienzweige
nach dem Dauerregen
blaue Auen
auf der Napfpalette
getrocknete Zeit
Unter den Sequenzen berühren mich insbesondere jene beiden, in denen die
Endlichkeit, Sterblichkeit, Vergänglichkeit von Mensch und Tier anklingen:
„0pfer“ dreht sich im Kreis:
’ne steife Krähe
im Schnee
(…)
was könnte schlimmer
schmerzen als: nie mehr Frühling
für jene Krähe
Bei „wann“ sind es die Mitglieder einer Familie, denen der Tod das Abschiednehmen
auferlegt; am Schluss die berührende, eindringlich nachhallende Frage an die
Ehefrau und Mutter (genauso gut die der Sterbenden an ihre Angehörigen):
wann
kommst du wieder?
Nicht so sehr Reflexion und Interpretation denn vielmehr Meditation
kennzeichnet die Haiku im Kontext spannungsvoller Zitate. Bei „Wandel“ greift
sie viel weiter zurück als auf Friedrich Nietzsches Lehre von der ewigen
Wiederkehr des Gleichen. Der Bogen geht bis zur biblischen Weisheit aus Kohelet
1, 9 („Nichts Neues unter der Sonne“). Interessant, wie das Haiku diesen Bogen
weiter auszieht, indem es den ersehnten „Wandel“ als Utopie fasst und nicht
nach dem fragt, was ist (und sich folglich behauptet hat), sondern nach dem,
was verworfen wurde (und sich folglich nicht entfalten konnte).
Humorvoll, charmant, nachdenklich stimmend für mich Texte, die eine Einheit
allen kreatürlichen Seins nahe legen, indem Tiere zur Herausforderung, wenn
nicht zum Vollstrecker einer verschmitzten menschlichen Weisheit werden (vergessen
wir nie den Zusammenhang von „Weisheit“ und „Witz“). Erwähnt seien in diesem
Zusammenhang „Meister“ und „Satisfaktion“. Manches Mal erhellen sich die „Haiku
im Kontext“ wechselseitig. Bei dem Haiku
Raum B.
ein Besucher
im Kopfstand
deute ich mir das Kürzel „B.“ als Hinweis auf einen bedeutenden
zeitgenössischen bildenden Künstler.
Abschließend sei ein „Haiku im Kontext“ wiedergegeben, das einem genialen
polnischen Aphoristiker den „Anschub“ verdankt – und dem wirklich nichts hinzuzufügen
ist:
verloren
40 – Ball ins Aus
im Terminkalender
fehlt Weiß
Rüdiger Jung