Was heißt denn hier Neu?
Neugierige kosten ein Appetithäppchen, Stammgäste können auf einen Blick erkennen, ob einzelne Haiku, Tanka, Haiga oder Haibun von Georges oder Gabriele Hartmann neu veröffentlicht wurden, welches neue Buch der bon-say-verlag gerade herausgegeben hat, ob schon eine Rezension erstellt wurde und vieles mehr.
Allerdings ist nach spätestens drei Monaten auch das Neue nicht mehr neu genug und wird aus dieser Auflistung verschwinden.
Welche Veranstaltung man sich vormerken sollte, sehen Sie unter Termine.
Tipps:
Öfter mal reinschauen, damit Sie nichts verpassen.
Und wenn Sie gerne weitere Haiku, Tanka & Co lesen wollen, klicken Sie unter Verlag die Buchcover an. Dort sind Leseproben und Rezensionen hinterlegt. Und alle Haiga finden Sie unter Markt.
Viel Vergnügen wünscht
Gabriele Hartmann
***
neu am 16. März 2023
7 Haiku von Gabriele Hartmann
ein Schwan
und seine Spur im Schlamm
wir vergeben der Welt
für immer sagst du und drehst deinen Ring
Lehm & Steine
ich siebe den Fluch aus meinen
Gedanken
Schreibblockade ich warte auf den Wind vor dem Regen
nächtliche Schwüle
das Rauschen der Schnellstraße
wird Brandung
Abendsonne – der Glanz des Welterbes verblasst
Nachtvorstellung ein Boulespieler fixiert den Mond
erst: auf haiku-heute.de; Hrsg. Dr. Volker Friebel
***
neu am 16. März 2023
ein Tan-Renga von
Gabriele Hartmann & Christof Blumentrath
ewiges Leben
wir teilen uns
den letzten Schluck
scharf
und zugleich süß
GH / CB
erst: auf haiku-heute.de; Hrsg. Dr. Volker Friebel
***
neu am 16. März 2023
ein Tan-Renga von
Gabriele Hartmann & Michaela Kiock
da geht
der Sommer – Romeo
blutet
in gerötetem Laub
ein Origami-Herz
GH / MK
erst: auf haiku-heute.de; Hrsg. Dr. Volker Friebel
***
neu am 15. März 2023
ein Haiga von Gabriele Hartmann

wir teilen uns ein Feierabendbier
erst: haiku-heute.de; Hrsg. Dr. Volker Friebel
***
neu am 15. März 2023
ein Haiku von Gabriele Hartmann
heftet sich
an meine Fersen – die Nacht
ein bellender Hund
erst: haiku.heute.de; Hrsg. Dr. Volker Friebel
***
neu am 1. März 2023
eine Grußkarte von Gabriele Hartmann

Einzelheiten finden Sie auf der Seite „Weg“
***
neu am 1. März 2023
zwei Haiga von Gabriele Hartmann

laufende Ermittlungen
unsere Spuren enden
wo alles begann

Verwandtenbesuch
er schlägt einen Knick
ins Paradekissen
erst: Haiga im Focus; Hrsg. Claudia Brefeld
***
neu am 1. März 2023
ein Haiku von Gabriele Hartmann
erstes Frühlingslicht
der Asphalt wechselt
die Farbe
erst: Haiga im Focus; Hrsg. Claudia Brefeld
***
neu am 1. März 2023
ein Haiku von Gabriele Hartmann
Inseltag
mein Blick kreist
auf dem Horizont
erst: Kukai24; Hrsg. Stefan Wolfschütz
***
neu am 16. Februar 2023
ein Tanka-Haiga von Gabriele Hartmann

nach Jahren
suchen wir ihn auf – jenen Platz
wo heimlich
wir uns trafen – und noch immer
ist da dieses Leuchten
erst bei einunddreissig.net;
Herausgeber: Dr. Tony Böhle
***
neu am 16. Februar 2023
2 Tanka von Gabriele Hartmann
es treffen sich
zur Familienfeier
Generationen
von Löffeln, Gabeln und Messern
auf gestärktem Damast
von der Hochzeit
sind ihm geblieben
geplatzte Träume
und sein vorangestellter
Mädchenname
erst bei einunddreissig.net;
Herausgeber: Dr. Tony Böhle
***
neu am 15. Februar
2 Haiku von Gabriele Hartmann
Schleierwolken wir kondensieren und verlieren uns
Mond im Perigäum es fällt ein Wort so klar wie Stille
Erst auf Haiku-Heute.de; Herausgeber Dr. Volker Friebel
***
neu am 1. Februar 2023
ein Haiga von Gabriele Hartmann

Infusion
beim dritten Mal habe ich
verstanden
erst: Haiga im Focus, Hrsg.: Claudia Brefeld
***
neu am 1. Februar 2023
ein Haiku von Gabriele Hartmann
Wind in den Weiden
unser Schweigen
wird tiefer
erst: Kukai24; Hrsg. Stefan Wolfschütz
***
neu am 14. Januar 2023
das neue Buch von Gabriele Hartmann

abgegriffen
158 Haiku 2022 von Gabriele Hartmann
Ringbindung, A6 quer, farbiges Innencover, 164 Seiten
ISBN 978-3-945890-53-0; 16 €
zu bestellen per E-Mail an info@bon-say.de
Es gibt 2 Rezensionen
Rezension von Brigitte ten Brink zu abgegriffen:
158 Haiku, eines pro Seite, 158 Momente des Wahrnehmens, des Erlebens, des Empfindens ihres Lebens im Jahre 2022 hat Gabriele Hartmann in diesem Buch festgehalten. Das Jahr 2022 ist wohl im allgemeinen Bewusstsein als ein schwieriges Jahr im Gedächtnis geblieben. Gesundheitliche Ängste (ist die Corona-Pandemie nun beendet oder nicht), finanzielle und wirtschaftliche Sorgen (explodierende Energiepreise und die damit verbundenen steigenden Kosten in allen Lebensbereichen) und nicht zuletzt politische und gesellschaftliche Verwerfungen (der Krieg in der Ukraine und der zunehmende Rechtsruck in den verschiedensten europäischen Regierungen). All diese, im Grunde doch sehr komplizierten Vorgänge, thematisiert die Autorin in ihren Haiku, in maximal 17 Silben und 3 Zeilen, tiefsinnig und hintergründig.
Doch als Erstes habe ich mich gefragt, wie der Titel des Buches – „ABGEGRIFFEN“ – zu verstehen ist. Er ist dem dritten Haiku dieses Buches entnommen:
Mutters Gesangbuch
abgegriffen
das Hohelied der Liebe
(S. 7)
In diesem Haiku hat das Wort „abgegriffen“ die Bedeutung von viel gebraucht, benutzt, abgenutzt. Doch ein Verständnis in diesem Sinne lässt sich nicht auf die anderen Haiku übertragen, weder inhaltlich noch in einem übergeordneten Sinn, der sich auf die Abnutzung des Genre Haiku im Allgemeinen beziehen würde, was absoluter Unsinn wäre. Also warum „abgegriffen“ als Titel wählen? Im Grunde ist die Antwort bereits gegeben: die Haiku sind dem Leben entnommen worden, sie sind aus dem Leben geschöpft, „abgegriffen“ worden, sie sind durch das Leben, das Erlebte des Jahres 2022 entstanden, so mein – vielleicht ganz persönliches – Empfinden.
Das Buch beginnt, ganz klassisch für Haiku-Jahresrückblicke, mit einem Neujahrshaiku
Jahreswechsel
alles, sagst du
bleibt
(S. 5)
Es bleibt das Gute, die Erinnerung an das Gute. Es bleiben aber auch die Probleme. Das neue Jahr übernimmt die Altlasten des vorherigen Jahres, schleppt sie weiter, bestimmt so die Zukunft mit.
Bei Gabriele Hartmann finden kleinste Details im Erleben Beachtung
nach dem Gewitter die Amsel unplugged
(S. 118)
Aber auch Zwischenmenschliches
erster Frühlingsmond
wir tragen unser Herz
auf der Zunge
(S. 59)
Inspiration durch Naturbeobachtungen
Zugvögel
ich schiebe meinen Koffer
in den Wind
(S. 123)
und große Ereignisse, die die ganze Welt bewegen
Russisches Brot
wir buchstabieren
FRIEDEN
(S. 57)
und
Inferno
gerade noch war alles
Sonne in mir
(S. 77)
Die Haiku bewegen sich durch den jahreszeitlichen Ablauf – mal mit, mal ohne Kigo – aber auch durch einen eher chronologischen Verlauf des Jahres, in dem aktuelle Ereignisse thematisiert werden, die im Grunde nichts mit einer Jahreszeit oder der Natur zu tun haben.
Wie immer gelingt es Gabriele Hartmann den Leser mit ihren Texten zu berühren, ihn nachdenklich zu stimmen. Doch in den Haiku des Jahres 2022 ist eine leicht melancholische Grundstimmung nicht zu übersehen, zu überhören, zu überlesen.
Das mit einer Ringbindung gestaltete Buch lädt ein, es irgendwo aufzuschlagen, das Haiku auf dieser Seite zu lesen und sich von ihm davontragen zu lassen – in die eigene Welt.
***
Rezension Rüdiger Jung zu ABGEGRIFFEN
Gate 6
ein Papierflieger
hebt ab
Vor gut einem Jahr hätte man diesem zauberhaften Haiku noch so etwas wie „kindliche Unschuld“ attestiert. Die Zeitläufte haben sich gewandelt. Nichts ist mehr, wie es war, seit am 24.Februar 2022 das Putin-Regime seinen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eröffnet hat. Nicht nur die Gewalt, auch die dazugehörige Propaganda wird seither großgeschrieben. Da waltet so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit, wenn dem schier endlosen Ausstoss manipulativer Worte im Haiku nur eine Zeile eingeräumt wird. Deren Überlänge der kritischen Aussage durchaus konform ist:
der lange Tisch … Pinocchios Maske dehnt sich
Der sechs Meter lange Tisch in Moskau wird in Erinnerung bleiben, an dem Emmanuel Macron und Olaf Scholz Putin als „Gäste“ in grosser Verlorenheit gegenübersaßen. „Pinocchios Maske“ entschärft das Ganze nicht. Eher wirkt sie in allerhöchstem Masse entlarvend. Wer die Jahreslese der im Verlaufe eines Kalenderjahrs veröffentlichten Haiku Gabrieles vor Augen hat, dem begegnet eben nicht nur, was ihr und Georges im Laufe eines Jahres widerfahren ist. Dem tut sich vielmehr ein Mikrokosmos auf, der für das „große“ Weltgeschehen durchsichtig wird:
Heiliger Abend
einer bricht
die Waffenruhe
Auf einer ersten Ebene des Lesens verstört zutiefst, dass selbst zum Fest des Friedens sich der Friede als unmöglich erweist. Auf einer zweiten erweist sich, dass selbst mit einer „Waffenruhe“ die eingehalten würde, ein extremes Maß an Spannung verbliebe. Was dominiert: die ersehnte „-ruhe“ oder die tödlichen „Waffen-“?
Auch andere Themen bleiben virulent und beunruhigend. Das Phänomen der „Lichtverschmutzung“ etwa, das für mich noch keiner so gut in ein Haiku zu fassen vermochte wie Gabriele
Großstadtlichterin Unterzahldie Sterne
Überhaupt: das Licht. Ein Thema, dem sich in Gabrieles Haiku gesondert nachgehen ließe – nicht ohne, dass es die vielfältigsten Biegungen und Brechungen erfährt:
schwindendes Licht
der alte Förster memoriert
Baumnamen
Der Sprache und der in ihr verbürgten Erinnerung bleibt es aufgegeben, im Blick zu behalten, was der nachlassenden optischen Wahrnehmung nicht mehr verfügbar ist.
Gabrieles Haiku sind von magischer Qualität, weil sie bei den ebenso schlichten wie verblüffenden Wurzeln der japanischen Dichtung verbleibt
Mag sein, dass wir „Westler“ das nicht aufnehmen können, ohne die Anfangszeile und die beiden, die ihr folgen, in ein kausales oder doch zumindest temporales Gefüge zu pressen. Der Text selbst gibt das nicht her. Er bietet ganz klassisch ein Nebeneinander konkreter sinnlicher Wahrnehmungen, die sich wechselseitig erhellen.
Wer die Texte NICHT in ein Schema sperrt, wer sich vielmehr mit allen Sinnen ihrer Konkretion überlässt, der findet sich in einer Welt wieder, der noch jeder im Grunde alltägliche Blick zur Spannung und zum Wunder gerät:
Nachtvorstellung
ein Boule-Spieler
fixiert den Mond
Ist das nicht himmlisch? Was mich besonders freut: dass die Haiku-Lese eines aufgewühlten Jahres einen ebenso persönlichen wie hoffnungsvollen Schluss-Akkord erfährt
Aufwachraum wir beginnen wieder zu träumen
***
neu am 1. Januar 2023
zwei Haiga von Gabriele Hartmann

rieselnder Sand wir verlieren uns in Erinnerungen

Räuber & Gendarm
eine Stimme
die zum Essen ruft
erst: Haiga im Focus; Hrsg. Claudia Brefeld
***
neu am 1. Januar 2023
ein Haiku von Gabriele Hartmann
altes Tagebuch
mit jedem Wort vertieft sich
das Brennen
erst: Haiga im Focus; Hrsg. Claudia Brefeld
***
neu am 1. Januar 2023
ein Haiku von Gabriele Hartmann
Heiliger Abend
mein Enkel will wissen
was eine Krippe ist
erst: Kukai24, Hrsg. Stefan Wofschütz
***
neu am 15. Dezember 2022
ein Haiku von Gabriele Hartmann
Aufwachraum wir beginnen wieder zu träumen
erst: Haiku.heute.de; Hrsg. Dr. Volker Friebel
***
neu am 12. Dezember 2022
3 Haiku von Gabriele Hartmann
Hoffnung …
zögernd mische ich
mehr Blau ins Gelb
***
im Neuschnee
Krähenspuren – ihr Lächeln
erricht die Augen
***
nach dem Gewitter die Amsel unplugged
***
erst: Sommergras 139, Dezember 2022;
Hrsg. Deutsche Haiku-Gesellschaft e. V.
***
neu am 12. Dezember 2022
ein Haiga von Gabriele Hartmann

wieder Herbst
und wieder ist er mir
einen Schritt voraus
erst: Sommergras 139, Dezember 2022;
Hrsg. Deutsche Haiku-Gesellschaft e. V.
***
neu am 12. Dezember 2022
ein Haibun von Gabriele Hartmann
NOTAUFNAHME
Morgennebel
die Skelette der Birken
winken uns zu
Die Tachonadel zittert bei 105, 12 Minuten, Behinderten-Parkplatz beim Haupteingang. Die Drehtür setzt sich in Bewegung – wir treten ein, (zu) rasch vor –, stoppt, dreht sich weiter: Wenn du es eilig hast, geh’ langsam!
Notfall, ich habe angerufen … Warten Sie vor der Ambulanz … Die Schwester erscheint, nimmt dich mit: Sie nicht! Ihr Ton lässt keinen Widerspruch aufkommen. Warten? Besser: schnell das Auto „richtig“ parken. Wieder rein. Langsam(er) dieses Mal, die Drehtür macht mit.
Vor der Ambulanz nehme ich Platz. Warten. Langsam gewöhnen sich meine Augen an das Zwielicht. Ein Patient auf Socken schiebt einen Infusionsständer vor sich her, zwischen den Lippen eine kalte Zigarette, strebt dem Ausgang zu. Nachtschicht und Frühschicht begegnen einander, tauschen Freundlichkeiten aus. Eine der Kommenden balanciert eine Tasse, der Kaffee schwappt über. Den Boden zieren Tropfen.
Die Tür öffnet sich, die Schwester verlässt den Raum, du lächelst.
erst: Sommergras 139, Dezember 2022;
Hrsg. Deutsche Haiku-Gesellschaft e. V.
***
neu am 12. Dezember 2022
4 Tan-Renga von Michaela Kiock und Gabriele Hartmann
Novemberschatten
mit der Kamera sammelt sie
das Licht
geblendet flüstert er
JA
MK / GH
Kartoffelfeuer
ihre leuchtenden
Augen
im Glutnest
trifft sich unser Blick
GH / MK
leeres Schneckenhaus
über mir die Schwärze
des Weltraums
einst
unser Lieblingsplatz
MK / GH
Herbstlicht
will sich nicht heben – der Schleier
in ihren Augen
vvv
unter der warmen Bettdecke
dieses Schnurren
GH / MK
erst: Sommergras 139, Dezember 2022;
Hrsg. Deutsche Haiku-Gesellschaft e. V.
***
neu am 10. Dezember 2022
11 Haiku von Georges Hartmann
Trostloser Winter
Ein dampfendes Glas Glühwein
nährt Illusionen
Issa und Bashô
wären bestimmt recht sprachlos
ob des Weinkonsums
Das war doch Rotwein!
Hättest besser gehungert,
arme Stechmücke
Das Stimmengewirr
über dem Waldschwimmbad
verstummt schlagartig
Zerkratzte Hände
suchen gierig nach Beeren
Die Wespen lauern
Die Wespe stürzt ab
und landet völlig weich …
im Silicon Valley
Im Lavendelfeld
schuften summend die Bienen
ohne zu meckern
Zwei Wochen Arbeit
mit einem Bissen geschluckt
Jetzt reicht’s der Biene
Spinnchens Werbespot:
„www Punkt zweitausend,
schon hängst du im Netz“
Sekundenlang
ihre Lippen auf meinen
dann wieder allein
Unterm Weihnachtsbaum
ein Buch übers Waldsterben
auf Hochglanzpapier
veröffentlicht in
„SCHREIBTISCH.LITERARISCHES JOURNAL 2022“
im Verlag edition federleicht; Hrsg. Karina Lotz
***
neu am 10. Dezember 2022
eine Erzählung von Georges Hartmann
Mulaski und die Nagelprobe
War es ein aufkeimendes Verlassenheitsgefühl, dass er von einer Minute zur anderen damit begann, seine Fingernägel einer kritischen Betrachtung zu unterziehen oder lediglich Ausdruck seiner Ratlosigkeit, die ihm diese mechanisch anmutende und Verlegenheit offenbarende Handlungsweise aufzwang? Er konnte sich keinen Reim darauf machen, spürte jedoch am Grad seiner inneren Unruhe, wie etwas von ihm Besitz ergriff, das sich nicht konkretisieren ließ und dem er sich nun ohne Gegenwehr achselzuckend überließ. Seine Gedanken befassten sich weder mit einem bestimmten Sachverhalt, noch hatten sie jene Gradlinigkeit, die ihn normalerweise charakterisierte. Ohne ersichtlichen Zusammenhang sprangen sie von Thema zu Thema, wobei sie immer tiefer liegende Ebenen seiner Vergangenheit berührten, bis ihn Erinnerungen an jenen Punkt seiner Kindheit brachten, der in seinem Gedächtnis nur mehr lückenhaft gespeichert war. Er wusste nicht mehr wer ihm die Geschichte der halbmondförmigen, vom Nagelbett ausgehenden Flecken erzählt hatte, die in Abhängigkeit ihrer Größe das Erkennungszeichen für einen mehr oder weniger gerissenen Lügner sein sollten, und warum er gerade jetzt davon gefangen genommen wurde. Doch bevor er über den sich in diesem Zusammenhang formierenden Fragenkomplex zu folgerichtigen Lösungen kam, verbot ihm sein Gemüt die Beantwortung, woraufhin er sich, einem inneren Impuls folgend, ausschließlich auf Zustand und Beschaffenheit seiner Fingernägel zu konzentrieren versuchte, was ihm allerdings nur zum Teil glückte.
Lag es daran, dass er vergessen hatte seine Nagelschere in den Koffer zu packen und er in der Erkenntnis, nicht mehr ganz so perfekt zu sein wie früher, die ersten Auswirkungen des Älterwerdens verspürte, welches ihn langsam aber sicher an die Außenbereiche des Lebens spülte, dorthin wo er die Einsamkeit vermutete? Als er vor Tagen, für jedermann überraschend, plötzlich Urlaub nahm, war in seinem Kopf kein Raum für solche Feinheiten, weil sie nicht zu seinen grundsätzlichen Überlegungen passen wollten.
Er fühlte sich unwohl, da unter den bereits beträchtlich wuchernden Nägeln Schmutzränder zu sehen waren, die er selbst mit einer aufgebogenen Büroklammer, von denen er beständig einen gewissen Vorrat in seiner Jackentasche mit sich herumtrug, nur unzureichend entfernen konnte. Die Zeiten, in denen er ihrer Länge durch den Einsatz seiner Zähne zu Leibe gerückt wäre, lagen schon lange hinter ihm, so dass diese Vorgehensweise für ihn nur dann als Notlösung in Betracht käme, wenn die Situation noch aussichtsloser werden würde, als sie es in diesem Moment erschien. Der Umstand, dass in seinem Körper vom Willen unabhängige und selbst medizinisch kaum zu kontrollierende Vorgänge abliefen, machte ihn nicht nur völlig hilflos, sondern auch im höchsten Maße ärgerlich. Das Beherrschtwerden von Nagel-, Bart- und Haarwuchs und vor allem dieses immer neu aufflammende Hungergefühl, das ihn, dem Drang todessehnsüchtiger Lemminge vergleichbar, stets zur Nahrungsaufnahme trieb, empfand er als überaus lästiges Attribut. Die Vorstellung, dass sein aus der Elektrizität von Gehirnströmen bestehender Intellekt in einem ansonsten scheinbar völlig geistlosen Körper steckte, erschreckte ihn über alle Maßen. War der Geist eine Geisel der Körperlichkeit? War das Leben ein unkontrolliert entstandener Selbstzweck und die darin gefangene Befähigung der sich unter der Schädeldecke befindlichen Masse nichts weiter als der Einfall eines im Hintergrund agierenden Folterknechts, der sich auf einem den Menschen unbekannten Beobachtungsposten befindlich, über deren Bemühungen, das Leben verstehen zu wollen, vor Lachen ausschüttete? War er lediglich ein durch die Gegend stapfendes atomares Etwas, das den Geist dazu zwang, sich als Mulaski zu begreifen? War er ein aus dem Nichts entstandenes Gebilde, das mit dem letzten Atemzug neuerlich zu einer völlig belanglosen Sache werden würde? Das Leben und die sich kraft von Gedanken etablierende Welt des Geistes erschienen Mulaski als zwei nicht unbedingt miteinander harmonierende Erscheinungsformen, die aus ihm bislang noch unersichtlichen Gründen auf diesem Planeten unausweichlich aneinander gekettet und dort als Mulaski etabliert worden waren.
Tief in der Sackgasse steckend versuchte er, die Geschehnisse der letzten Minuten zu analysieren und verfiel dabei auf das Wort „Nagelprobe“, das nun unvermittelt im Raum stand, mit dem er aber nichts anfangen konnte, weil er hierzu keinen konkreten Bezug herzustellen vermochte. Er versuchte, sich mit dem Argument der Zeit, die irgendwann für alle Problematiken eine Lösung bereithält und nicht nur auf politischer Ebene fortwährend als vermeintlich hilfskräftiges Instrumentarium eingesetzt wird, zu beruhigen. Doch es gelang ihm nicht, das einmal wachgerufene Misstrauen sich selbst gegenüber zu unterlaufen. Stirnrunzelnd wurde er von dem Gefühl übermannt, dass etwas unter seinen Nägeln brannte, das keinen Aufschub duldete.
Missmutig erhob er sich von der Bank, auf welche die Mittagssonne ein gleißendes Licht warf und die Holzbohlen mit wohliger Wärme erfüllte, die sein Körper begierig aufsog und ihn in jenen Dämmerzustand versetzt hatte, der für die in ihm aufkeimenden Gedanken sicherlich mitverantwortlich war. Seufzend streckte er die Glieder, erhob sich leicht schwankend, gewissenhaft darauf bedacht, sein Gleichgewicht nicht zu verlieren, was in dem benommenen Zustand der Halbwachheit und angesichts der zum Bach steil abfallenden Böschung nicht einfach war. Die diffusen Ideenabläufe verflüchtigten sich, und er knüpfte wieder an jenen Punkt der Wirklichkeit an, den er vor einer halben Stunde verlassen hatte, als er sich auf der Bank zum Ausruhen niedersetzte. Übermächtig saugte sich das gleichförmige Rauschen des schnell dahinschießenden Wassers in seinen Ohren fest, blendete ihn das von dessen Oberfläche reflektierte Licht. Wie flüssiges Silber glitt es dahin, wodurch sein Blick für Sekunden gefesselt wurde. Als er sich zum Weg umdrehte und auf die dahinter liegenden Äcker, den Wald und die den Horizont begrenzenden Bergrücken schaute, war seine Sicht für Augenblicke von einer hell pulsierenden Erscheinung überlagert, die sich erst nach mehrmaligem Blinzeln auflöste.
Die Geräuschkulisse veränderte sich mit zunehmender Entfernung vom Bach und klang, auf den Feldweg zurückgekehrt, wie liebliche Musik in seinen Ohren. Gurgelnd und plätschernd mischte sich das Rauschen des Wassers mit den Lauten vereinzelt zwitschernder Vögel und dem sonoren Brummen eines weit jenseits auf der Landstraße dahinfahrenden Lastwagens. Die Komposition erinnerte ihn an eine gelungenen Orchester-Aufführung. Der süßliche Geruch von geschlagenem Holz, das in akkurat aufgeschichteten Stapeln am Weg lagerte, verband sich mit den aufsteigenden Dämpfen der frisch gepflügten Äcker, die von einfachen Bretterzäunen oder elektrischen Weidezäunen begrenzt wurden.
Mulaski genoss die Szenerie, blieb stehen, sog alle Eindrücke in sich hinein und lauschte dem Pochen seines Herzens, das sein nunmehr zurückgewonnenes Glücksgefühl in hüpfenden Wellen wiedergab, die sich im Kopf überschlagend wie kleine Stromschläge entluden. Er blieb stehen, musterte liebevoll den Horizont und betrachtete nachdenklich die sich gegen den makellos blauen Himmel als dunkle Schattenrisse abzeichnenden Bergformationen und Gipfel, die er in den vergangenen Jahren schon mehrfach zum Ziel seiner Wanderungen gemacht hatte.
Seit mehr als zwanzig Jahren verbrachte er regelmäßig ein paar Wochen in dieser ihm ans Herz gewachsenen Landschaft, die jetzt im warmen Licht des vergehenden Herbstes bunt und vielfältig vor ihm lag. Er beglückwünschte sich zu dem Entschluss dieser unvermittelten Abreise, über deren Notwendigkeit er niemandem Rechenschaft schuldig war und vergrub, die Fingernagel-Problematik außer Acht lassend, die Hände tief in den Taschen seiner mausblauen Jacke.
veröffentlicht in
„SCHREIBTISCH.LITERARISCHES JOURNAL 2022“
im verlag edition federleicht; Hrsg. Karina Lotz
***
neu am 10. Dezember 2022
11 Haiku von Gabriele Hartmann
hinterm Horizont
erwartet mich der Gatte
erster Frühlingsmond
flüchtige Küsse
was heute alles sein wird
oder nicht
ein langer Kuss
die Wärme der Bruchsteine
in meinem Rücken
fließendes Licht
wir überlassen uns dem Strom
der Worte
verschlungene Wege
an deiner Hand
durch die Nacht
helle Strähnen
seine Finger verlieren sich
im Himmel
alter Teich …
noch einmal werfe ich
die goldne Kugel
grüne Äpfel
wir überschreiten
die Grenze
anbrechende Nacht
Vater sucht noch immer
nach dem Wort
Pappeln im Wind
lausche den Stimmen
im Kopf
Hundstage
mein Lieblingsmensch
hat Bier kaltgestellt
veröffentlicht in
„SCHREIBTISCH.LITERARISCHES JOURNAL 2022“
im verlag edition federleicht; Hrsg. Karina Lotz
***
neu am 10. Dezember 2022
2 Haiga von Gabriele Hartmann

wir teilen uns
den Kaschmirpullover
ich
und die Motten
im meinem Schrank

Biker
in den Serpentinen
ein neues Kreuz
veröffentlicht in
„SCHREIBTISCH.LITERARISCHES JOURNAL 2022“i
m verlag edition federleicht; Hrsg. Karina Lotz
***
neu am 10. Dezember 2022
ein Haibun von Gabriele Hartmann
Dornröschen
Künstlerhaus Schloss Balmoral, Bad Ems.
Eine Stunde Anfahrt, Parkplatz an der Lahn, ich eile die Treppe hinauf, betrete den Saal, bin spät dran. Dort in der Mitte ist noch ein freier Platz. Man erhebt sich, macht sich schlank, dreht die Knie zur Seite, wendet den Kopf ab. Entschuldigungen murmelnd, für Entgegenkommen dankend zwänge ich mich mit angehaltenem Atem im Seitschritt an denen vorbei, die vor der Zeit kamen. Der Autor steht bereits am Lesepult und sortiert geräuschvoll lose Blätter. Kaum sitze ich, beginnt er mit dem Vortrag. Monoton rauschen Worte an mir vorbei. Um was geht es hier eigentlich? In unregelmäßigen Abständen endet eine Passage, man klatscht verhalten, der Autor raschelt wieder, sucht, findet und beginnt ein neues Kapitel. Jemand steht auf, geht betont langsam zum Ausgang.
knarrende Dielen
im Kaleidoskop fehlt
Blau
Die Tür quietscht in den Angel, fällt ins Schloss. Alles wiederholt sich. Lesen, klatschen, rascheln, lesen, aufstehen, knarren, quietschen. Wiederholt sich. Die Köpfe der Gefangenen verfolgen die Flüchtenden. Und ich sitze in der Mitte. Frage mich, wann ich an der Reihe bin. Unmöglich. Mein Blick sucht das Fenster. Ich erwäge, am Rosenspalier herabzuklettern. Und muss lachen. Ich pruste los, kann nicht aufhören, die ersten fallen ein. Bald lachen alle. Irritiert hebt der Autor den Kopf, rückt die Brille gerade.
stürmischer Applaus
der Prinz an meiner Seite
schlägt die Augen auf
veröffentlicht in „SCHREIBTISCH.LITERARISCHES JOURNAL 2022“im verlag edition federleicht; Hrsg. Karina Lotz
***
neu am 10. Dezember 2022
eine Tanka-Tanbun-Sequenz von Gabriele Hartmann
DIE ERÖFFNUNG
Ouvertüre
heute Abend
werde ich’s dir sagen
ein raffiniertes Menü hab ich ergoogelt: Kaviar, Feigen, Hummer, Erdbeeren,
Spargel, Vanilleschoten … und
meinen Worten
Würze schenken
mit einer Prise Chili
erster Akt
der Champagner
ist schon kalt gestellt
zwei Flaschen bitte, gebot ich diesem jungen Mann im Feinkostladen –
er zwinkerte verschmitzt mir zu
ich frage mich
ob auch du dieses Prickeln
verspürst
zweiter Akt
vielleicht
errätst du meine Botschaft ja
so stell dir nur vor, galant trug meinen Einkauf er bis in die Küche …
darunter auch ein Glas mit sauren Gurken,
das nun bereits geleert
weil ich
auf einem Stadtplan von Paris
den Tisch uns deckte
dritter Akt
das Moulin Rouge
– Highlight der Hochzeitsreise –
die Stadt der Liebe, hätte er noch nie bereist, doch würde er gern kosten:
die Delikatessen die es gäbe
erinnre mich
wie’s unsre Phantasie
beflügelt’
Epilog
und …
dieses rote Kleid von einst
riet er mir, noch einmal anzuziehen – ich tat’s und …
schau nur: es passt
noch –
was wollt ich dir nur sagen?
veröffentlicht in
„SCHREIBTISCH.LITERARISCHES JOURNAL 2022“
im verlag edition federleicht; Hrsg. Karina Lotz
***
neu am 1. Dezember 2022
ein Haiku von Gabriele Hartmann
***
Kartoffelfeuer
ihre Augen verlangen
nach mehr
***
erst: Haiku-Agenda 2023; Hrsg. Deutsche Haiku-Gesellschaft e. V.
***
neu am 1. Dezember 2022
ein Haiku von Gabriele Hartmann
***
erster Wintermond
unter dem Leinentuch wächst
der Hefeteig
erst: kukai24.de (Platz 1); Hrsg. Stefan Wolfschütz
***
Und wo sind jetzt die all schönen Beiträge vor dem 1. Dezember 2022?
Die waren nicht mehr neu genug für NEU.
Tipp:
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Viel Freude beim Stöbern wünscht
Gabriele Hartmann