Be-Geisterung

Heft, A6 hoch, 24 Seiten, farbiges Außen- und Innen-Cover, vorne und hinten, ISBN  978-3-945890-55-4; 7 €

Dorothea und Norbert Flemming aus Wuppertal trafen sich mit Gabriele und Georges Hartmann aus dem Westerwald im Kloster Maria Laach, um sich von dessen Historie und Architektur begeistern zu lassen. Aus dieser Begegnung heraus entstanden Texte im Stil eines Renshi, mit denen sie ihren Eindrücken und Assoziationen literarische Bedeutung verliehen haben.

Titelfoto: Buch an Buch, Georges Hartmann

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Und nun folgen 2 Rezensionen, die Begriffserklärung RENSHI und eine Leseprobe von Gabriele & Norbert:

Rezension Brigitte ten Brink

BE-GEISTERUNG

Renshi

Dorothea & Norbert Flemming, Gabriele & Georges Hartmann: BE-GEISTerung. Renshi. Paperback. bon-say-verlag Höchstenbach. 2024. 24 Seiten. Titelfoto Buch an Buch: Georges Hartmann. Covergestaltung: Gabriele Hartmann. ISBN 978-3-945890-55-4. Zu beziehen unter info@bon-say.de

Bei der Besprechung dieses Büchleins fange ich von hinten an, beim Nachwort nämlich. In diesem wird erklärt, um was es sich bei einem Renshi handelt.

Renshi zählen zu den Kettengedichten, die von mehreren Verfassern abwechselnd geschrieben werden. Im Gegensatz zu anderen Formen der Kettendichtung, wie z. B. Tan-Renga, Rengay, Renhai oder dem Junicho ist sowohl die Anzahl der Kettenglieder frei, als auch ihre Form. Ebenso gibt es keine bestimmten inhaltlichen Vorgaben, die erfüllt werden müssen.  Wichtig ist allerdings, dass die Schreiber der einzelnen Kettenglieder, jeweils ein Wort oder den vordergründigen Sinn aus dem vorhergehenden Text aufgreifen und daran anknüpfen, dem Text aber eine weitere Ebene, einen weiteren Gedanken hinzufügen.

Die vier Autoren dieses Büchleins haben einen gemeinsamen Besuch des Klosters Maria Laach in der Eifel als Anlass zum Schreiben genommen. Entstanden sind so gedankenvolle und tiefgründige Texte, die sich mit Gott und der Welt, dem eigenen Erleben und Empfinden sowie den Assoziationen beschäftigen, die die Umgebung und der vorhergehende Text auslösen. Aufgrund der freien Form, sind die einzelnen Kettenglieder mal kürzer, mal länger, in Prosa mit oder ohne Haiku oder Tanka, eher erzählend oder eher lyrisch verfasst, jedoch aufeinander aufbauend, anknüpfend, so dass der Leser immer wieder von neuen Aspekten überrascht wird

Um dieses Prinzip bzw. Konzept der Renshi-Dichtung und die unterschiedliche Formgebung zu veranschaulichen, hier ein Beispiel aus dem Büchlein:

fraglos ein wahrer Freund
der sein Bedürfnis
hintanstellt

… zur Erleichterung seiner Freunde

Dorothea


Freunde, die ich lange nicht gesehen … Mein Kopf sucht nach Worten, findet wie immer keinen Anfang … Hölzern wie eh und je und im Gehirn nur leere Wüste und die Angst vor dem ersten Wort. Das Kloster wie ein Bollwerk gegen den Ungläubigen trutzig und abweisend, kalt und düster das Innere, legt es mein Gemüt lahm, bis dann plötzlich die Erinnerung an jene Kapuzinermönche durchs Gehirn zuckt, welche bei meiner schwerhörigen, von der Gicht geplagten Oma zu oft ein- und ausgingen, aber stets mit größeren Geldscheinen versorgt, laut lachend wieder verschwanden …

vom Glauben enttäuscht

die Suche nach der Wahrheit
bleibt stumm wie ein Grab

… werde ich Gott jemals verstehen?

Georges


Beim Gang der vier Autoren durch die architektonisch imposante klösterliche Anlage vermischen sich Geschichte, Religion und Wissenschaft mit ihren ganz persönlichen Gefühlen, Wahrnehmungen und Gedanken, denen sie in ihren jeweiligen Textbeiträgen Ausdruck verleihen.

Es ist aber auch die Weiterführung dieser Eindrücke in dem jeweils folgenden Kettenglied, welche das Renshi so lesenswert machen. Aus einem Aspekt ergibt sich ein weiterer, ein  neuer, der immer wieder auch in einem metaphysischen Gedankengang mündet. In der Gesamtschau ist das Renshi BE-GEISTERUNG eine kluge, nachdenkliche und sehr philosophische Retrospektive dieses Ausfluges in die Geschichte des Klosters Maria Laach.

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Leseprobe Gabriele und Norbert::

Während der Fahrt zur Benediktinerabtei Maria Laach

Nebelschwaden
vorgelagert
meine Zweifel

– dann klart es auf.

Gabriele
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aufgeklärt – vielleicht
abgeklärt – nein
wissend – „Dass ihr’s nur wisst!“

– hofft der scheinheilige Frager.

Norbert

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Begriffserklärung

Renshi ist ein Begriff für die moderne Kettendichtung, (ren – miteinander verbundenes Gedicht, shi – im modernen, formal ungebundenen Stil). Mindestens zwei oder mehr Poeten (und Übersetzer) treffen sich an einem gemeinsamen Ort zu einer persönliche Begegnung. Teilnehmer sind Dichter, die eben nicht durch die Tradition und das klassische Regelwerk der japanischen Kurzlyrik geprägt sind (im Vergleich zur Renga/Renku-Dichtung).

Die Sprache kann einsprachig oder mehrsprachig mit multikulturellem Hintergrund sein.

Die zentralen, klassischen Motive, wie Mond, Blüte, Liebe werden nicht mehr zum Strukturieren herangezogen. Die Motive der Dichtung sind das gesamte Spektrum unserer Erfahrungen, aber, um einmal den Unterschied deutlich zu machen, im wesentlichen Gedankenlyrik und nicht das Ergebnis der Beobachtung eines (Natur)-Ereignisses, abgesehen von den Einlassungen zur konkreten Begegnung vor Ort.

Minimale Geschwindigkeit: Jeder Autor steht unter einem gewissen Zeitdruck, den er mit seiner Fähigkeit zur spontanen und durch die Situation der persönlichen Begegnung bedingten originellen Kreativität beherrscht. Keine Konkurrenz: Teamgeist verbindet die Autoren. Zentrales Anliegen ist der gemeinsame Schaffensprozess, das Respektieren der Verschiedenheit des Mitautors. Die Anzahl der Kettenglieder ist frei. Die Strophenform ist frei, ungebunden, ganz selten die Tanka-Form oder die Sonett-Form. Die Anzahl der Verse ist frei. Die Metrik des Verses ist frei.

Verknüpfung: Der antwortende Poet greift ein Wort des letzen Verses, den vordergründigen Sinn oder die Assoziationen einer weiteren Sinnebene auf und ‘riecht’ (nach Bashô) den Duft der vorangegangenen Strophe und startet damit das nächste Kettenglied. Auch bewusst dualistische Anschlüsse werden ausprobiert. Dabei werden auch politisch-kulturelle Anspielungen aufgegriffen. Im Verlauf des neuen Kettengliedes wird aber nicht weitererzählt oder gar beim ‘Thema’ geblieben, sondern es erfolgt ein Wechsel der Assoziationen, eine unerwartete Wendung auf eine neue Thematik., ein Sprung in die Gegensätzlichkeit Jeder einzelne Schritt ist frei von dem Wunsch des Zurückkehrens. Man folgt dem Lauf und ändert den Sinn allein aus dem Wunsch vorwärts zuschreiten. Die Spur des vorangegangenen Schrittes wird verwischt und die ganz persönliche Idee des Folge-Autors zeigt in eine neue Richtung, die wieder … usw.

https://haiku.de/haiku-lexikon/
Hrsg.: Deutsche Haiku-Gesellchaft e. V.

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Rezension Rüdiger Jung:

„Dorothea und Norbert Flemming aus Wuppertal trafen sich mit Gabriele und Georges Hartmann aus dem Westerwald im Kloster Maria Laach, um sich von dessen Historie und Architektur“ (auch vom vulkanischen Ursprung der Maare!) „begeistern zu lassen.“

Die Form des Renshi fasziniert – nicht zuletzt, weil sie freier und offener wirkt als die (vermeintlich?) strengeren Konzepte von Renga und Renku. Im erläuternden Nachwort überzeugt nicht zuletzt das Konzept „Team-Work statt Konkurrenz“. Überdies bestechend der sinnliche Ausdruck dafür, wie ein Kettenglied der Dichtung an das vorangegangene anschließt: „die Autorin / der Autor“ ‚riecht‘ (nach Basho) den Duft der vorangegangenen Strophe“.

Im Blick auf Maria Laach ist der Leser / die Leserin eingeladen, sich durch die Texte von Kultur und Natur, Geschichte und Prägung des Ortes, seiner Stimmung und Atmosphäre berühren zu lassen. Das bedeutet nicht nur kostbare Bibliothek und Nachsinnen über den „Reichsdeputationshauptschluss“. von 1803 (Säkularisation!), sondern – sehr viel grundsätzlicher – die Frage, wie weit ich mich auf die christliche Basis der monastischen Welt einlassen möchte.

Für mich kommt das vor allem in den Beiträgen von Georges Hartmann zum Tragen – und die überzeugen mich literarisch vor allem da, wo sie die Frage in ihrer existenziellen Offenheit aushalten. Das wiederum geschieht für mich am ehesten in den dreizeiligen Zuspitzungen:

mutlos vorm Altar
alle Leitungen besetzt
„Please hold the line“

Bei aller Ermüdung („mutlos vorm Altar“): das Gespräch ist nicht abgebrochen, der Draht scheint nach wie vor offen.

Was oder wer war
für den Urknall zuständig?
Gott schweigt beharrlich

Wissenschaft stößt auf Glaube – aber das Ganze bleibt nicht im Vordergründigen stecken. Ist doch ein „Schweigen“ (so unergründlich es sich darstellen mag!) mehr als die bloße Abwesenheit von Rede, zumal „beharrlich“ erst einmal den sehr aktiven Part einer Intensivierung spielt. Noch drei andere Zeilen sind Georges in besonderer Weise zu danken, weil sie traumatische Erfahrung auf den Punkt bringen:

Erinnerungen
verweigern sich der Löschung
man bleibt drauf sitzen

Das mag Brennus, der Anführer der Kimbern und Teutonen, die seinerzeit Rom eroberten, nicht anders gesehen haben. Das „vae victis“, das „Wehe den Besiegten“, das er den Römern entgegenschleuderte, fiel schließlich – bei deutlich veränderter Sachlage – auf ihn selbst zurück. Norbert Flemming schließt das Renshi mit dieser wahrhaft janusköpfigen Formel ab.
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Fähigkeiten

Gepostet am

16. April 2024