„… immer noch“, Silvia Kempen und Gabriele Hartmann
Rengay, Tan-Renga und Fotos
Softcover, A5, 84 Seiten, 2013
Rezension Rüdiger Jung
Von Wang Wei, einem
der ganz großen Dichter und Maler im China der T’ang-Zeit gibt es ein
berühmtes, den westlichen Betrachter verblüffendes Selbstporträt: er bietet uns
den Hinterkopf! Das Foto auf Seite 1 nimmt diesen Faden auf. Ein geradezu
abstrahiertes, verrätseltes Detail daraus schmückt Vorder- (spiegelverkehrt)
und Rückseite des vorliegenden Buches. Janusköpfigkeit drückt sich darin aus:
ein Blick, der gleichermaßen zurück sieht und nach vorn. Dieses Vexierbildhafte
unterstreicht, dass sich das „… immer noch“ des Titels in „noch immer …“
auf Seite 1 verwandelt.
Die Partnerdichtung Japans ist und bleibt für die Ich-Welt westlicher Lyriker
eine große Herausforderung. Gabriele Hartmann (G) und Silvia Kempen (S)
meistern sie mit Bravour: ein starkes, eingespieltes Team – einander kongenial.
37 Rengay, 53 Tan-Renga, 18 Fotos – Herz, was willst Du mehr?
Es finden sich Hokku, die geradezu dem Idealbild des Haiku entsprechen (G):
nach dem Schauer
Kinderfüße zertreten
den Himmel
Und immer wieder franziskanische Anklänge (G):
geschlossene Schneedecke
mit den Vögeln das Brot
teilen
Schwanzwedeln
vor einer Metzgerei
sie pfeift und pfeift
Treibjagd
in Halbdunkel
Tarnwesten
zwischen
zwei Salven
der
lachende Hans
S/G
Die Kraft der Musik, Erinnerungen
buchstäblich wach zu rufen, wird feinfühlig wahrgenommen:
noch immer
die Melodie von gestern
schnell Kaffee
in
meiner Tasse schwankt
das
Meer
G/S
Es gehört beiderseitige Empathie und Sensibilität, ja, auch ein gutes Stück
Harmonierens dazu, komplexe Beziehungsgefüge gemeinsam auf den lyrischen Punkt
zu bringen:
Sonnenuntergang
in unser Schweigen hinein
brauen sich Wolken
knisternd
lösen sich Stücke
vom
Kandis im heißen Grog
G/S
erster Arbeitstag
an den Kleidern haftet noch
das Meer
am
Ringfinger blitzt
ein blasser
Streifen
S/G
Den „blassen Streifen“ am Finger dürfte – nomen est omen – ein Ring
hinterlassen haben, der abgestreift wurde. Hier wird wahrgenommen, nicht
erzählt. Der Leser selbst mag sich seinen (gar nicht zwingend eindeutigen) Reim
darauf machen.
Frappierend, wenn eine der dichtesten Erfahrungen unserer Existenz – zumal noch
auf religiöser Ebene – in die Dimension des Spiels zurückgenommen wird (G):
Passion
Jesus und seine Jünger
verneigen sich
Tatsächlich bleiben bei aller immer wieder aufleuchtenden Lebensfreude die
Schattenseiten unserer Existenz keineswegs ausgespart. Traumatisierung etwa:
im Bombentrichter
treiben schmutzige Wolken
Erinnerungen
der
Knall eines Luftballons
lässt
ihn zusammenzucken
G/S
Oder auch das Thema Krankheit:
monoton
das Ticken des Tropfs
hinterm Paravent
G
Arzttermin
den Knoten im Taschentuch
lösen
S
Das Alter als Phase des Abschieds klingt an (S):
Elternhaus
nur ihr Lehnsessel kommt mit
ins Altersheim
Nicht wenige der Tan-Renga bieten Stillleben, zeigen Hinterlassenschaften auf –
wie das folgende:
trocken Brot
am Morgen fehlen
die Worte
noch
ungelöst
das
Kreuzworträtsel
G/S
Umso erfrischender, wenn eines der Rengay dem hochnotpeinlichen demographischen
Wandel letzten Endes die Zunge herausstreckt (S):
in jeder Falte
nistet ein Lächeln
grau? ja und?
Rüdiger Jung