Schatten und Spuren

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„Schatten“, Gabriele Hartmann, Haiku 2011,
Ringbindung, A6 quer, 66 Seiten

„Spuren“, Gabriele Hartmann, Haiku aus 2010,
Ringbindung, A6 quer, 50 Seiten

Doppelbuch mit „Spuren“, 2014, ISBN 978-3-945890-10-3

Rezension „Schatten“ Rüdiger Jung


      erstes Morgenlicht
      dem schlafenden Meer entsteigt
      das Meer

Das hat etwas von Entmythologisierung. Natür1ich denkt man einen Moment lang an Aphrodite, die Venus von Botticelli. Eine ernüchternde Tautologie? Keineswegs. Das Meer gebiert nicht nur die Schönheit, es ist die Schönheit. Das klassische Haiku japanischer Prägung setzt oft zwei Sinneseindrücke nebeneinander. Eine Kunst, die Gabriele Hartmann beherrscht.

      kreischende Sägen
      eine Stimme
      die zum Essen ruft

Vergänglichkeit grundiert manchen der Texte:

      tanzender Staub
      im Schrank Mutters Brautschuhe
      und ihre Zöpfe

Widerpart dieser Vergänglichkeit ist eine Kraft des Erinnerns, die gegenwärtig hä1t, was einmal gegenwärtig war:

      Schokoladeneis
      ein Zipfel des Taschentuchs
      mit Mutters Spucke

Die Dinge mit den Augen eines Kindes sehen! riet Basho. Das beinhaltet einen B1ick, der immer wieder vom Hundertsten ins
Tausendste gerät. Aber dabei Prioritäten setzt — in traumwandlerischer Sicherheit:

      b1inde Kätzchen
      die Kinder haben ihr Eis
      vergessen

Was wirklich wichtig ist, meinen wir zu wissen. Und müssten uns manchmal besser von einem Kind an die Hand nehmen lassen:

      Zeugnisvergabe
      ein Kind spuckt
      in die Pfütze

Rüdiger Jung

Rezension „Spuren“ Rüdiger Jung


      Herbstlicht
      neben dem Herd
      das dampfende Brot

Von solcher sinnlicher Qualität sind die Haiku Gabriele Hartmanns. 40 davon aus dem Jahr 2010 hat die Autorin in dem Band „Spuren“ zusammengefasst. Am Ende des Bandes weist sie die Internet-Foren, Zeitschriften und Bücher aus, in denen die Texte erschienen sind. Klassische Topoi der Haiku-Dichtung wie etwa die Spiegelung des Wassers wirken bei ihr frisch und unverbraucht:

      stilles Wasser
      mein Blick versinkt
      im Pflaumenbaum

Mehr noch: das Motiv gewinnt eine poetische Intensität, die den Leser so bald nicht mehr loslassen wird:

      kleine Schritte
      der morsche Steg verliert sich
      zwischen den Sternen

Leise, aber voller Nachhall nimmt die Autorin Abschied:

      der alte Kirschbaum
      ohne Schatten nun — Vater
      spaltet die Sti1le

Erinnerungen gewinnen Haiku-Dignität, weil sie ganz und gar gegenwärtig sind und bleiben:

      mit ihren Lippen
      spitzt Mutter den Faden an
      Lampenschein

Den herbstlichen Aufbruch der Vögel begleiten die unterschiedlichsten Empfindungen. Zum einen der Schmerz:

      Wildgänse
      die Frau ohne Koffer
      wendet sich ab

Zum anderen eine geradezu taoistische Gelassenheit:

      Zugvöge1
      er stützt sich auf seinen Besen
      und spuckt in den Wind

In seiner Kürze und Prägnanz ist das Haiku nah an der Stille. Jener Stille, derer auch die Musik gleichsam als Kontrapunkt bedarf:

      Orchesterprobe
      jemand sagt
      Ruhe

Eines der schönsten Haiku Gabriele Hartmanns — eines, an dem jedes deutende Wort abgleitet nimmt und hebt diesen
Gegensatz auf:

      Wintermorgen
      der alte Geigenbauer stimmt
      das Schweigen

Rüdiger Jung



Fähigkeiten

Gepostet am

4. Juli 2013