samtbraune Augen …

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„samtbraune Augen …“, Gabriele Hartmann, Haiku aus 2015
Ringbindung, A6 quer, 136 Seiten, 2016, ISBN 978-3-945890-17-2

Rezension Rüdiger Jung

Für mich immer eine besondere Freude, wenn Gabriele Hartmann einen neuen, abgeschlossenen Jahrgang ihrer Haiku vorlegt – auf der letzten Seite das breite Spektrum der Erscheinungsorte aufschlüsselnd. 111 deutsch- und 20 englischsprachige Texte legt sie für 2015 vor. Der Vergleich deutscher und englischer Fassungen lohnt: nicht selten finden sich leicht divergierende Nuancierungen.

      Feldpost
      das Eigentliche
      geschwärzt

Eine ebenso kurze wie frappierende Reminiszenz an Weltkriegszeiten. Es scheint, die Militärzensur hat ganze Arbeit geleistet. Tatsächlich scheint dem Leser nur umso deutlicher vor Augen, was da „geschwärzt“, ihm vorenthalten wird. „das Eigentliche geschwärzt“ ruft überdies die Diskussion um Martin Heideggers Schwarze Hefte wach …
Schön, dass die Natur sich immer noch leisten kann, menschliche Grenzziehungen in Frage zu stellen:

      Stadtmauern
      diesseits und jenseits
      das Lied der Amsel

Wo Gabriele Hartmann Zeitgedichte schreibt, kommt ihr ein spitzbübischer, aufklärerischer Humor sehr gelegen:

      römischer Brunnen
      einer der Migranten
      füttert die Nilgänse

Wer, wenn nicht ein „Migrant“, sollte die „Nilgänse“ füttern? Ägypten, Rom, die ganze Weltgeschichte ist voll von „Migranten“. Sie sind nicht der Ausnahme-, vielmehr der Regelfall – weshalb „Migrant“ am Ende kaum mehr etwas anderes sagt als „Mensch“. Der römische Brunnen, in den man eine Münze wirft (um wiederzukommen?), lässt grüßen. Oder auch der „Römische Brunnen“ von Conrad Ferdinand Meyer, wo jede der Schalen (außer der ersten und der letzten) beides: nimmt und gibt!
Auch der Sarkasmus steht der Autorin zu Gebote, der Anklage und Kritik noch zuspitzt und verstärkt:

      Gedenkminute
      auch die Schnellstraße
      schweigt

Eros und Thanatos haben ein sehr eigentümliches Rendezvous:

      Valentinstag
      ihr Lieblingsfisch – sie benutzt
      ein stumpfes Messer

Alter Schmerz hat ein reiches „Nachleben“:

      verlassen
      das Wespennest – immer noch
      große Bogen

Auf der anderen Seite wird ein auf den ersten Blick eher prosaischer Ausdruck zum absoluten Inbegriff der Zärtlichkeit:

      Hundstage
      mein Lieblingsmensch hat Bier
      kaltgestellt

Und der Haushalt nimmt verschmitzt ein wahres Naturtalent in Augenschein:

      Hauswirtschaftstag
      der Karatemeister schlägt
     ’nen Knick ins Kissen

Gabriele Hartmann, die Dichterin, kommt mir als ein extrem achtsamer Mensch vor – nicht zuletzt mit ihrer Sensibilität und ihrem wachen Sensorium für das, was an uns Menschen paradox oder doch zutiefst ambivalent ist:

      Vorhaltungen
      die Lust an einem alten Stich
      zu kratzen

Ein Mensch sollte Ecken und Kanten haben. Ein Gedicht, das einen solchen Menschen wiedergibt, wohl auch:

      Stoßbetrieb
      die Wirtin
      hinkt schneller

Rüdiger Jung

Fähigkeiten

Gepostet am

1. Juli 2016