„Zwielicht“, Gabriele Hartmann, Haiku aus 2009
Ringbindung, A6 quer, 76 Seiten
Doppelbuch mit „Stille“, 2014, ISBN 978-3-945890-09-7
„Stille“, Gabriele Hartmann,Haiku aus 2006 bis 2008
Ringbindung, A6 quer, 50 Seiten
Doppelbuch mit „Zwielicht“, 2014, ISBN 978-3-945890-09-7
Rezension Zwielicht Rüdiger Jung
Spiralheftung, DIN A 6, ein Titelfoto als Vorder- und Rückseite, jedem Haiku seine eigene Seite, dass es atmen und wirken kann – so stellt sich die Buchveröffentlichung Gabriele Hartmanns äußerlich dar. Ein erster Teil (ohne eigenen Titel) umfasst 33 Haiku, vieren davon jeweils ein englisches Äquivalent vorangestellt. Der zweite Teil, „feature“, beinhaltet zwanzig Haiku – jeweils zuerst die englische, dann die deutsche Fassung. Dem Interesse, das der Band weckt, weiter nachzugehen ermöglicht eine abschließende Liste der „Veröffentlichungen 2009“. Nicht gekünstelt, sondern ganz und gar natürlich und überzeugend berührt den Leser die Synästhesie des Eröffnungsverses
Dämmerlicht
aus dem Mond löst sich
ein Vogellied
In einem Vers ruft Gabriele Hartmann vergangene Zeiten wach, in denen der Raumfahrt die vermeintliche Unschuld menschlicher Entdeckungsfreude innezuwohnen schien – und noch nicht das strategische Kalkül der Supermächte:
leer gefegt die Straßen
The Eagle has landed
Eine Bildende Künstlerin ist in diesen Haiku am Werk; ein extrem geschulter und verfeinerter Sinn für die wesentlichen Linien und Konturen wird sichtbar – in Momentaufnahmen von äußerster Genauigkeit und evokativer Kraft:
mit ihren Lippen
spitzt Mutter den Faden an
Lampenschein
Sommerwind
das Schlagen
der Wäsche
Winterhelle
auf dem Strand
die Rücken der Boote
Gerade das abschließend zitierte Stilleben ist – ohne dass ein einzelnes Wort dies signalisieren könnte oder müsste – erfüllt von den Ausfahrten des vergangenen wie des kommenden Sommers.
Abschied, eine Stimmung, eine Atmosphäre, ein Fluidum – etwas von schwebender Leichtigkeit, was nicht zu halten ist und gleichwohl bleibt – als ein untilgbarer Nachhall:
ihr Duft
im leeren Flur – am Ende
die sich schließende Tür
Dämmerung, dusk, twilight als Zwielicht, aber auch als Halbdunkel lauten die Grundvokabeln des Buches. Deutlich ist die Faszination der Übergänge; da mag es kaum mehr überraschen, dass auch eine der Grenzen, derer wir uns immer wieder versichern – jene nämlich von Traum und Wachen – auf märchenhafte und gleichermaßen suggestive Weise fließend wird:
New Year’s morning
the snow of my dream ranges
to the second step
Neujahrsmorgen
der Schnee aus meinem Traum reicht
bis zur zweiten Stufe
Ein Haiku des ersten Teils,
tanzender Staub
jemand nennt
meinen Namen
begegnet im zweiten („feature“) wieder – allerdings in veränderter Zeilenbrechung und damit signalisierend, wie minimale Nuancen solch ein winziges Gedicht verändern:
whirling dust
someone
calls my name
tanzender Staub
jemand
nennt meinen Namen
Ein Moment der Unio mystica (man spürt gleichsam das Aufgehen im „tanzenden Staub“) bricht sich an der Gegenwart, die (ein Weckruf? unerbittlich?) zurückruft in die Individuation.
Das klassische Paradox des Haiku, Stille zu sagen, Stille hörbar, erlebbar zu machen, begegnet in einer dem Schreiben verschwisterten Kunst, der Musik:
winter morning
the old violin-maker tunes
the silence
Wintermorgen
der alte Geigenbauer stimmt
das Schweigen
Abschließen möchte ich meine Betrachtung mit dem Titelgedicht:
twilight
he arranges the figures
and waits
Zwielicht
er stellt die Figuren auf
und wartet
Eine neue Genesis, wie es „the first word“/“das erste Wort“ in einem der vorangegangenen Haiku oder auch der fast unmittelbar benachbarte Text „darkness“/“Finsternis“ in Anspielung auf das biblische Urchaos nahelegt? Die Vorbereitung eines Schach- oder auch Marionettenspiels? Das Wirken eines Requisiteurs auf der Bühne? Jede mögliche Deutung gerät zu einem Kurzfilm. Was gleichwohl bleibt, ist
on the table
an unsolved Puzzle
auf dem Tisch
ein ungelöstes Rätsel
Rüdiger Jung
Rezension „Stille“ Rüdiger Jung
Als das vorzügliche „Projekt Sperling“ von Hubertus Thum sein Erscheinen einstellte, gehörte das letzte Wort (zumindest in Haiku-Form) Gabriele Hartmann (damals noch Reinhard) – eine verdiente Würdigung! Die Westerwälderin vereint – einem der Klassiker des Haiku, Buson, vergleichbar – in sich die Gaben des konzentrierten Gedichts und der Bildenden Kunst. Dieser Doppelbegabung verdankt sich die große Bildkraft ihrer Verse „die – stilsicher und genau gesetzt – durchaus auch im Klang überzeugen. Sie laden ein zu Momenten des Innehaltens :
Mondlicht
der leere Stuhl hat aufgehört
zu schaukeln
Wer sich den Haiku Gabriele Hartmanns anheimgibt, kommt nicht umhin, wieder und wieder einen Moment lang ganz Auge zu sein:
Schlaglöcher
randvoll
mit Himmel
Bremslichter
in Ackerfurchen
staut sich Morgenrot
Die Atmosphäre, die Stimmung eines Augenblicks im Kreis der Jahreszeiten teilt sich dem Leser mit – in großer Dichte und Intensität:
Gewitterluft
der Hofhund knurrt
seinen Schatten an
Der Protagonist begegnet uns später wieder:
Mitternachtsregen
ein Straßenköter
trinkt vom Mond
Den „Straßenköter“ lese ich übrigens keineswegs despektierlich: der Hund tut etwas Vermessenes – und das auch noch erfolgreich! So nähert er sich geradezu gefährlich dem Menschlichen an … Das Leben gibt Laut in den Haiku Gabriele Hartmanns – und bewegt sich damit auf der hintergründigen Folie der Stille:
Morgenkühle
ein Vogel
bricht das Schweigen
Ein Vers, der mich auch dadurch fasziniert, dass er das Moment der Polarität, von dem Wilhelm von Bodmershof in seiner „Studie über das Haiku“ gesprochen hat, eindrücklich belegt.
Bashos Forderung, der Haikudichter habe gleichsam neu zum Kind zu werden, korrespondiert – etwa in folgendem Beispiel – eine Herz und Sinne erfrischende Verspieltheit:
Strommasten
auf dem Notenblatt ein Vogellied
und der Mond
Die Typographie der Künstlerin unterstützt die Aussage der Dichterin mit der schier endlosen Zeile des kleinen Vogellieds und der danach so auffallend winzigen für den großen Mond.
Überhaupt: die verblüffendsten und nachhaltigsten Impressionen, die sich dem Leser durch die Haiku Gabriele Hartmanns vermitteln, sind dem Himmel geschuldet – ganz gleich, ob dem der Nacht oder – wie im folgenden – dem des Tages:
Mittagsläuten
ins Fenster der Nachbarin
kippt der Himmel
Ein „Himmel“, der sich ganz real im Fensterglas spiegelt und zugleich einer anderen Dimension („Mittagsläuten“) angehört. Der hohe Mittag, gleichsam das sicherste Areal des Alltags, wird transparent für etwas, das die Sinne allein nicht fassen; die überaus nachhaltige Redeweise vom „Himmel“, der „kippt“, hat etwas im vollen (doppelten) Wortsinne Apokalyptisches.
Ein Motiv, das nicht unerwähnt bleiben soll, ist die Empathie und Sensibilität Gabriele Hartmanns für den Menschen neben ihr:
regenschwer
des Bettlers Hut
Dass er leer bleibt, macht ihn so schwer – nicht Menschen, der Himmel, nicht Münzen, der Regen, nicht Trost, das Leid ist seine Fülle. Diese unerhörte Armut muss sich inmitten von lauter Dreizeilern mit lediglich zwei Zeilen begnügen.
Das nimmt so keiner wahr, der nicht schon einmal selbst ganz auf sich zurückgeworfen war:
Spätnachrichten
auf dem Anrufbeantworter
meine Stimme
Die „-nachrichten“ sind nicht mehr Brücke zur Welt, vielmehr Teil eines unfreiwilligen, unentrinnbaren Selbstgesprächs; ein menschlicher Gesprächspartner fehlt, und der technische hat – ganz nüchtern festgestellt – „meine Stimme“. Der Nüchternheit des Gedichtes – ohne Larmoyanz, ganz unprätentiös – entspricht eine Einsamkeit, die technisch messbar geworden ist. Die erste Silbe, das bedrohliche „Spät-„, ist es, die am Ende nachhallt. Die siebzehnte Silbe ist Stille, eine, die nach Entgegnung, nach einer Antwort verlangt, die eine andere trägt als „meine Stimme“.
Rüdiger Jung