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„… auf jahr und tag“,
Marlies Rath und Gabriele Hartmann, Renga im Doppelbuch
Ringbindung, A5, 80 Seiten, 2007, 2. Auflage 2014

Rezension Rüdiger Jung

Das Renga in klassischer Form (5+7+5 und 7+7 Silben, wie überhaupt die Partner-Kettendichtung nach japanischem Vorbild) hat durch Prof. Dr. Carl Heinz Kurz (1920 – 1993) seinen Weg in den deutschen Sprachraum gefunden. Er postulierte eine zusätzliche – aber keineswegs willkürliche! – Regel: dass nämlich derjenige der beiden lyrischen Partner, der den ihm vorgegebenen Haiku- bzw. Senryu-förmigen Oberstollen durch Ergänzung zweier siebensilbiger Zeilen auf Tanka-Maß bringt, das Ganze noch mit einem Titel versieht, der damit logischerweise keine Über-, sondern richtiger eine Unterschrift darstellt.

Marlies Rath und Gabriele Hartmann haben diese Gesetze mustergültig erfüllt und sich ansonsten alle Freiheiten einer (sei es kulinarisch, sei es erotisch) poetischen Sinnenfreude verschrieben, die mal dem Märchen, mal aber auch seiner Entzauberung gehorcht. Das Resultat in Buchform ist von janusköpfiger Gestalt: die Lektüre lässt sich auf beiden Seiten beginnen, zweimal 32 Seiten (jeweils 90 Renga) treffen sich im Zentrum. Auf der einen Seite ist es Gabriele Hartmann, die einen vorgegebenen Dreizeiler von Marlies Rath um Unterstollen und Titel ergänzt, auf der anderen Seite verhält sich die Verteilung der Rollen zwischen den beiden Damen genau umgekehrt.

Da fängt es in der Rubrik „sommer“ ganz japanisch bei Natur an und versandet sogleich im köstlich aufgespießten Spießbürgertum:

unter himmelblau
lädt fröhlicher wind ein zum
pusteblumenflug

      über weizenblond – landung
      im vorgarten unerwünscht

grenzen       (mr/gh)

Eines der Duette unter der Überschrift „gartenfest“ ist – im wahrsten Sinne des Wortes – fabelhaft:

gegrilltes am spieß
fliege schwimmt im bowleglas
komm doch mal rüber

      blick zur mücke – nein danke
      wir haben schon gegessen

vegetarier       (mr/gh)

Das Unglück des Kindes, das Unheil anrichtet, ohne es zu wollen, ereignet sich zur „essenszeit“:

apfelsaftschorle
tränkt nutellabrot – lustig
schwenkt sie ihr täschchen

      am riemen im kreis – ahnt nicht
      nahen tadel – glas und glück

bruch       (mr/gh)

Ein-und-das-selbe Märchen lässt die verschiedensten Umdeutungen und Neuinterpretationen zu. Da heißt es im Kapitel „karneval“:

niedlich die kleine
prinzessin in rosarot
krönchen auf blondhaar

      und pistole im anschlag
      küss mich, dann wirst du ein prinz

knallfrosch       (mr/gh)

Von wegen erlöst werden durch den weiblichen Mund: Selbsterlösung ist angesagt, ihr Männer! Wobei letztere durchaus – das steht nun unter der Überschrift „märchen“ – in der noch einmal glimpflich geratenen Rolle rückwärts bestehen kann:

tiefes wasser birgt
verlockendes geheimnis
eine kugel rollt

      in ihren schoß – erleichtert
      hüpft er zurück – verzichtet

prinzenrolle       (gh/mr)

So gut wie der „grüne Heinrich“ aus den Haus- und Kindermärchen der Ge-brüder Grimm kommen die Männer bei den beiden grimmigen Damen ansonsten selten weg. Das reinste „Schwarzbuch: Männer“ tut sich auf unter „leidenschaft“, „erotik“ und „täuschung“:

glänzendschwarzer lack
ganz sanft streichelt seine hand
über den türgriff

      nimm sie – flüstert es heiser
      längst ist er ihr verfallen

corvette       (mr/gh)

seine hand – suchend
zwischen dem faltenwurf des
knisternden stoffes

      wo ist die fernbedienung
      das spiel hat schon begonnen

samstagabend       (mr/gh)

burgunderrote
schminke – lippenbekenntnis
auf weißem kragen

      seltsam – im gemeinderat
      sind doch nur brave männer

ortstermin       (mr/gh)

Und nun, liebe Geschlechtsgenossen: aufgetaucht aus dem Teich! Es gibt durchaus auch weibliche Selbstkritik, die ihrer „wortgewalt“ inne wird – und dessen, wie gefährlich wir leben, welcher Drahtseilakt uns Tag für Tag gelingen muss:

die schärfsten waffen
balancieren frauen auf
der zungenspitze

      im rechten moment liebkost
      verstummt das klirrende schwert

friedensangebot       (gh/mr)

Lassen wir abschließend noch die „entführung“ ins Reich des Theaters zu und uns folgenden Leckerbissen mitnichten nehmen, auch wenn er sich bei Böswillen als Schleichwerbung inkriminieren ließe:

scheinwerfer spotten
kristallgekrönt die kuppel
notbeleuchtung grünt

      diskretes hüsteln vor dem
      ersten akt – papier knistert

hustelinchen       (gh/mr)


Rüdiger Jung


Fähigkeiten

Gepostet am

1. Juli 2013