Autorenseite Georges Hartmann
BUCHSTABENSALAT
bon-say-verlag

Ich muss zur Beichte
der Kirschbaum steht blütenweiß 
fast nehm’ ich ihm’s krumm 
Auf der Hecke
 liegt ein Bikini zum Trocknen 
die Hölle ist grün 
Die Amsel badet
 im plätschernden Dorfbrunnen 
gern tät ich ihr’s gleich 
Nach dem Saison-Schluss 
bespielt den Minigolf-Platz 
ganz allein der Wind 
Den alten Ahorn 
haben sie gestern gefällt 
mir den Herbst geraubt 
Schon wegen der Schrift 
hüt ich mein altes Schulheft 
als wär’s ein Kleinod 
Entnervt springt der Frosch 
beim „Genju-an“ ins Wasser 
schon wieder Haijin 

AUSGEKNOCKT 
Haibun 
Da sitze ich wie ein schlaffer Sack im Sofa und grübele dem Leben hinterher, bis mich der Jammer wie eine Allergie befällt. Meine einstmals hochtrabenden Ideen hängen leichenstarr im Geäst eines wenig beachteten Laubbaums und mein Selbstbewusstsein wirkt derart ramponiert, als wäre es Mike Tyson in einen rechten Ha- ken hineingestolpert. 
Nichts ist trostloser
 als ein leerer Briefkasten 
nach dem Urlaubsflirt 
ALLENTHALBEN EIN FABELWESEN 
Haibun 
Einmal mehr zergrübele ich mir das Gehirn über dieses Leben, das jeder von uns trotz aller Beziehungen auf sei- ner eigenen Bahn absolviert, von der ich nicht weiß, ob sie vorgegeben, zufällig oder selbst bestimmt ist. Sind wir eine Ausgeburt energetischer Phänomene und am Ende überhaupt nicht real, sondern nur eine virtuelle Erschei- nung auf irgendeinem Bildschirm, der im Andromeda- nebel von einem Wesen beäugt wird, in dem wir als Ken- ner von Grimms Märchen allenthalben ein Fabelwesen erkennen würden? 
Sind wir auf einer anderen Ebene eingeschlafen und träumen für die Dauer einer dort verpennten Nacht die- sen manchmal schwer verdaulichen Gefühls-Cocktail, um dann dort so kurz vor Acht ziemlich zerschlagen auf- zuwachen und irgendeiner phantastischen Arbeit nach- zugehen, die auf einer weiteren Ebene ebenfalls nur die Ausgeburt eines Tänzchens ist, weil sich ein winziges Atömchen zu einem Quantensprung hat hinreißen las- sen? 
Die einzige Chance, nicht verrückt zu werden, ist die Möglichkeit, die eigene Person als grotesk zu erkennen und sich ob dieser Feststellung lauthals ins Fäustchen zu lachen. 
Das Morgengrauen
 schaltet für den nächsten Akt 
langsam das Licht hoch 
***
Als letztes Geschenk 
verströmt der gefällte Baum 
süß riechendes Harz 
Ganz fest hält das Kind 
die welke Hand des Opas 
während das Laub fällt 
Was ich gern wüsste … 
ob der Einsiedler vom Berg 
das Leben begreift? 
***

DER GITARRIST DIE LIPPEN SPITZT 
Haibun 
Der zwischen Apotheke und Buchhandlung postierte Gi- tarrenspieler singt „Blackbird“ von den Beatles. Ich bleibe abrupt stehen, werde im Strom der Menschen zum Hin- dernis, rette mich wie ein vom Fluss in einen blinden Win- kel geschwemmtes Stück Treibgut in den nächstbesten Hauseingang, lasse mich vom Klang der Gitarre und dem Liedtext in eine weit zurückliegende Zeit tragen, als mein Leben noch mit ganz anderen Dingen befasst war als heute. „Blackbird fly into the light of the dark black night“, schwappt die Melancholie an mein Ohr, so dass ich beinahe eine Gänsehaut bekomme und damals wie heute den Kontrast der ins Licht der schwarzen dunklen Nacht hinein fliegenden Amsel wie ein in Pastellfarben hingehauchtes Bild begreife, dessen Inhalt mir jahrelang fremd blieb. Ich warte, bis die Stelle kommt, an welcher der Gitarrist die Lippen spitzt und sekundenlang eine Me- lodie in den freien Raum pfeift, greife in die Hosentasche um nach den darin in loser Schüttung gelagerten Mün- zen zu angeln, von denen ich dann eine in die auf dem Boden ausgebreitete Gitarrenhülle lege. 
„You were only waiting for this moment to be free“ 

***
In der Sonnenglut
 stört sich der Hund vorm Haustor 
nicht an der Katze 
Das Schnurrhaar geknickt 
träumt er vom alten Revier 
unterm Beton 
Weißt du noch … damals? 
die Stille über dem Grab 
entführt mich der Welt 
Zutiefst ergriffen
 steh ich im schwarzen Anzug 
an der Schrottpresse 
Tauziehen im Gras
 und wieder fliegt die Amsel 
als Sieger vom Platz 
***
FOLGERICHTIG
Haibun 
Meine Gedanken-Utopien verweigern sich jeglichem Ge- spräch und bedürfen des Mediums Papier, um Gestalt annehmen zu können. Streng genommen bin ich inner- lich schon ganz ordentlich abgedriftet und in Gebiete vorgedrungen, die unter sogenannten normalen Ge- sichtspunkten für den Aufenthalt in einer Gummizelle aus- reichen dürften. 
Es wäre halt zu schön, den-, die- oder dasjenige zu ent- larven, der, die, das für den fürs Universum ganz wesentli- chen ersten Atomklumpen verantwortlich zeichnet. Aber fast bin ich mir sicher, wenn der, die, das endlich gefasst wird, hat wieder bloß ein kleiner Chaot ein paar lausige Instruktionen von irgendwem Unbekannten befolgt. Und immer so fort. Es ist zum aus der Haut fahren. 
Durch das Ozonloch
schaut der liebe Gott grübelnd 
auf sein Erstlingswerk 
***
Die Angst wird spürbar 
an den Alarmanlagen 
im Wohlstandsviertel 
Die Kunden enttäuscht 
der fliegende Teppich 
ohne Navi 
Wieder kein Haiku 
unverhohlen das Gähnen 
des Jurors 
***

***
Im siebten Himmel 
droht eine Gewitterfront 
„komm, küss mich nochmal“ 
Vom Gipfel zurück 
verstehen mich die Menschen 
jetzt noch weniger 
***
IM WALTEN DER UNENDLICHKEIT
Haibun 
Die Zugpferde hängen schwer im Zaumzeug, die Peit- sche fliegt knallend über die schweißbedeckten Tierlei- ber, ein roher Bursche lacht hämisch in den heute nach Frühling riechenden Nachmittag. Ich stehe wild gestikulie- rend wie ein in Gärung befindlicher Komposthaufen am hinteren Bildrand und fluche lästerlich hinter dem her, der gerade mit meinem sorgsam geschnürten Zeitpaket da- vonprescht, als hätte er sich etwas wirklich Wertvolles un- ter den Nagel gerissen. Im Walten der Unendlichkeit wirkt die Erfindung der Zeit wie ein komisches Possenstück, in welchem wir zum Gaudium des himmlischen Publikums die um den Faktor der Ewigkeit Betrogenen spielen und am Schluss vom Applaus der tatsächlich Unsterblichen begleitet hinter dem Vorhang verdampfen. 
Gott schweigt beharrlich 
die Kerze zu zwei Euro 
war wohl zu wenig 

POSTKARTENIDYLLE
Haibun 
Lavendelfelder, unablässig vor sich hin lamentierende Zi- kaden und Hitze bis zum Abwinken. Dörfer mit engen Häuserschluchten, einer obligatorischen, meist fest ver- schlossenen Kirche, mindestens einem Brunnen oder ei- ner nur mehr Anschauungszwecken dienenden Wasch- halle. Man setzt sich dann in eines der Bistrots, lässt den wenigen Verkehr an sich vorbeirollen, beobachtet das Treiben auf den Märkten, genießt den Augenblick, lauscht den Gesprächen, die man nur bruchstückhaft versteht, bis wieder deutsche Urlaute ins Bewusstsein rie- seln, man plötzlich versonnen an zuhause denkt und das Klischee „Provence“ zu verblassen beginnt. 
schneller wird mein Schritt 
so viele Augen
hinter blinden Fenstern 
SCHAFE SIND VIELLEICHT SEELEN 
Haibun 
Kann der Mensch etwas anderes als er selbst sein? Das Nachdenken – ob über sich selbst, andere, abstrakte Dinge oder was auch immer – ist ein Prozess, für den ein Organ verantwortlich ist, von dem die Wissenschaftler sagen, dass sich dieses mit sich selbst unterhalten muss, um sich und den Wirt in welchem es eingebettet ist, am Leben zu erhalten. Das „SELBST“ ist insoweit etwas Irreales, weil es nichts weiter als eine Definition der sich ohne Un- terbrechung allein um sich selbst drehenden Gehirntätig- keit ist. Die grauen Zellen erklären sich unter vielen ande- ren Dingen, wer sie angeblich sind. Das „ICH“ ist demnach nichts weiter, als eine Projektion, was ich heute als Ar- beitshypothese zur Beantwortung der eingangs gestellten Frage favorisiere. Denkbar ist, dass der auf den Namen Georges hörende Apparat, möglicherweise noch von etwas umkreist wird – vom Gehirn als Seele bezeichnet – die vielleicht jenes „ICH“ ausmacht, das vom Gehirn als „SELBST“ definiert wird, was dann aber ebenfalls nur ein Gedanke der grauen Zellen ist, die unter Umständen le- diglich eine Ahnung von etwas haben, das ihnen über- geordnet sein könnte, ein Gedanke, der dem Gehirn schwer zu schaffen macht, weil die Einzigartigkeit sämtli- cher Gehirnmasse dann ja viel weniger als der Bruchteil der Seele wäre. 
Ist das Beneidenswerte am Schaf die Begrenztheit der ihm über das Schafsgehirn zu Gebote stehenden Mög- lichkeiten? „Schafe sind vielleicht Seelen“, denkt das Gehirn unter der Schädeldecke, das sich in diesem Mo- ment ganz entschieden nach dem Geruch eines Schafs sehnt, sich in dessen Wolle kuscheln und nur noch fühlen möchte, um nicht mehr nachdenken zu müssen. 
***
Feine Schleier 
ziehen über die Felder 
erstes Laub fällt 
Gestern noch in grün 
erzählt er heut vom Herbst 
der Ahorn vorm Haus 
Nebelspaziergang
für Stunden abgeschnitten
allein mit mir selbst 
***

***
Das Auge isst mit 
lobt der Kater das Buffet 
zwei Amseln im Schnee 
Der Weg durch den Wald 
verliert all seine Schrecken 
in schneestiller Nacht 
Im dichten Nebel 
hör ich das helle Lachen 
spielender Kinder 
Schau doch, das bin ich 
die blasse Schrift im Schulheft 
stimmt mich nachdenklich 
Morgendämmerung 
das helle Lied der Amsel 
lässt mich nicht mehr los 
Vom Baum fällt das Laub … 
könnt ich doch meine Sorgen 
so leicht abschütteln 
Jetzt, da du fort bist 
sind die Rosen voll erblüht 
wollt’s dir noch zeigen 
***

***
Nach der französischen Grenze 
die Melodie
des Asphalts 
Das kleine Pappschild 
an der Tür zum Eis-Salon 
schimmert im Herbstlicht 
Dem Café-au-lait
fehlt es entschieden an Flair 
Sehnsucht nach Paris 
Seit Jahrtausenden 
betört die Grillen-Combo 
mit dem gleichen Lied 
Einsamer Playboy! 
über dein schütteres Haar 
streicht nur noch der Wind 
***
ABWANDLUNGEN
Haibun 
In den Mauernischen hocken die Tauben, aus den leeren Fensterhöhlen quillt nichts sagende Düsternis, und der halb verfallene Bauzaun gibt Zeugnis von der Trostlosig- keit eines brachliegenden Geländes, das in der Gunst möglicher Bauherren keinen besonderen Stellenwert be- sitzt, weil sonst bestimmt schon jemand auf die Hinweista- fel „Günstig abzugeben“ reagiert hätte. 
Meisterdichter!? Im literarischen Gewürzbeet wuchert das Unkraut, ist die Saat längst von hungrigen Schnäbeln ver- schlungen worden und konstruieren findige Köpfe aus dem sich unter den Nagel gerissenen Gedankengut ra- sante Abwandlungen, die das Original weit in den Schat- ten stellen. Meisterdichter … Selten habe ich mich zer- schlagener gefühlt als nach diesem Wort. 
Lange denk ich nach
ob die Dohlen am Gipfel 
hr Glück begreifen? 
***
Die Heckenrosen
 am stillgelegten Bahngleis 
blühn wie jedes Jahr 
Die Morgensonne 
steigt glutrot in den Himmel 
mit dir wach werden 
Das rostige Gleis 
Spielplatz meiner Kindheit 
wird heut abgeräumt 
***

***
Draußen schneit’s wieder 
er liest die Unterschriften 
auf dem Gipsbein 
Schneeflocken tanzen 
doch der Schlitten im Keller 
kennt nur noch den Staub 
***
DEN ANSCHLUSS VERPENNT
Haibun 
Da ist dieses unruhige Klopfen hinter den Rippenbögen, als wollte sich das Herz aus seinem Käfig befreien und vom gewohnten Schlag abweichende Schwingungen in der Blutbahn entfachen. Da pocht das schlechte Gewis- sen im Kopf, dass sich die Schädeldecke hebt und senkt. Da steht die Psyche vor dem endgültigen Schachmatt, und ich merke, wie der feste Halt unter den Füßen weg- rutscht. Ich hab mal wieder den Anschlusszug verpennt, stehe mutterseelenallein und traumverloren am verlasse- nen Bahnsteig, wo zwischen den rostigen Gleisen das Un- kraut wuchert und die Geier geduldig auf den Telefon- masten hocken, bis das in der Sonne goldgelb gebrate- ne Stückchen Mensch endgültig umfällt. 
Mit Sehnsucht im Herz 
betracht ich die Zugvögel 
auf der Flucht vorm Herbst 
IMPRESSUM 
BUCHSTABENSALAT ist seit Sonntag, 19. Juli 2020 online 
(Design: Gabriele Hartmann, bon-say-verlag)
alle Rechte bei dem Autoren & Fotografen 
Georges Hartmann 
Ober der Jagdwiese 3 
D-57629 Höchstenbach 

ZUR PERSON 
1950 in Bitche (F) geboren
 lebt & liebt, fotografiert & schreibt im Westerwald 
neugierig? Georges auf https://bon-say.de/autoren/ Kontakt: georges.hartmann@t-online.de