von Silvia Kempen und Gabriele Hartmann
Heft, 32 Seiten, 14,8 x 14,8 cm
12 farbige Fotos und 12 Tanka
Im Stil einer Kettendichtung
Bitte beachten Sie, dass die nachgehende Abbildung ein Foto ist. Dort funktionieren Links nicht.
Es gibt 2 Rezensionen von Brigitte ten Brink und Rüdiger Jung!
Rezension Brigitte ten Brink
„Weggefährten“ lautet der Titel dieses Partnerprojektes von Silvia Kempen und Gabriele Hartmann. Weggefährtinnen sind auch sie. Seit vielen Jahren widmen sich SK und GH, so ihre Autorenkürzel, gemeinsam der japanischen Partnerdichtung und schreiben Rengay, Doppel-Rengay, Tan-Renga und nun diese Foto-Tanka-Strecke. Die lose miteinander verknüpften Fixpunkte dieser Strecke sind die Fotos und die Tanka, jeweils zwölf an der Zahl, abwechselnd von den beiden Autorinnen verfasst und durch die in der japanischen Partnerdichtung bekannten Regeln „Link“ und „Shift“ miteinander verknüpft.
Auf den linken Seiten des Büchleins präsentieren sich die Fotos, auf der rechten Seite das von dem jeweils vorhergehenden Foto inspirierte Tanka, an das sich ein Foto derselben Autorin anschließt: So ist der Startpunkt der Strecke ein Foto von SK, dem ein Tanka und ein Foto von GH folgt. SK antwortet auf das Tanka und das Foto ihrer Vorgängerin wiederum mit einem Tanka und einem Foto und so fort bis die Strecke im letzten Tanka zu ihrem Endpunkt kommt, der durch einen Rücklink eine Brücke zum Startfoto und dem daran anknüpfendem ersten Tanka schlägt.
die Rille
dieser Schallplatte – auch sie hat
Anfang und Ende
woran ich nicht denken mag
mitten im Song „Eternity“
GH (Tanka 1)
Lockdown –
Musik von nebenan
durch die Lücke
der neue Nachbar trainiert
mit nacktem Oberkörper
SK (Tanka 12)
Beim Betrachten der Fotos und Lesen der Tanka wird der Leser ebenfalls zum Weggefährten. Er schreitet mit den Autorinnen von Foto zu Tanka zu Foto zu Tanka … und auf diesem Pfad wird er immer wieder angezogen und überrascht von den visuellen und sprachlichen Einfällen der Verfasserinnen bis hin zum Endpunkt, der als Wegweiser zurück zum Startpunkt fungieren kann, um diesen Spaziergang noch einmal zu machen (was ich zum Beispiel sofort getan habe). Angedeutet ist diese Möglichkeit auch in dem in zarten Grautönen gehaltenen Coverfoto „Labyrinth“ von Gabriele Hartmann. Ist es in der griechischen Mythologie der Faden der Ariadne, der den Weg weist, sind es in dem Buch die Verknüpfungen (Links) der fortschreitend entstehenden Ebenen (Shifts), die dem Leser auf dieser Strecke immer wieder neue Perspektiven öffnen, ihn auf weitere Aspekte hinweisen, bis sich der Kreis am Ende schließt.
Unterwegs auf dieser Strecke begegnen dem Leser wunderbar fotografierte Impressionen und eindrücklich formulierte Texte mit einer großen inhaltlichen Spannbreite. Geschrieben wird über Emotionales (die Unbändigkeit des frisch Verliebtseins), individuell Erlebtes (die Beobachtung eines Jungen, der mit seinem Vater einen Drachen steigen lässt), die aktuelle reale gesellschaftliche Situation (Inzidenzwerte googeln) bis hin zu gesellschaftlichen Phänomenen (der Boom von Onlinepartnervermittlungen).
statt Wetterbericht
Inzidenzwerte googeln –
die Treppe hoch
für die nächsten Monate
unserer Arche
SK
ich schärf mein Profil
denn alle 11 Minuten
verliebt sich ein Single
auf Parship … und frag mich doch
wie’s mit der Gegenliebe steht
GH
Jedes dieser prägnanten und ausdrucksstarken Tanka kann für sich alleine stehen. In der Verbindung mit den Fotos und in den Verbindungen der Fotos und der Texte untereinander entsteht jedoch ein poetisches Gesamtwerk, das Gänsehaut hinterlässt, ein Hingucker ist und das noch genügend Spielraum für die Phantasie und die Auslegung des Lesers lässt – lesenswert von der ersten bis zur letzten Seite.
Im Anhang geben Silvia Kempen und Gabriele Hartmann einen Einblick in ihre Vorgehensweise bei der Anordnung der Fotos und der Texte, ihren Verknüpfungspunkten, sowie eine Erläuterung zum Wechsel der Ebenen und ihren Themengrundlagen. Interessierte können sich eine Excel-Tabelle mit der detaillierten Auflistung der jeweiligen Links und Shifts unter info@bon-say.de schicken lassen.
Rezension Rüdiger Jung
Immer wieder gelingt es Gabriele Hartmann – und ihren Ko-AutorInnen – auf dem Gebiet der Kurz- und Partner-Dichtung nach japanischem Vorbild Neues und Wegweisendes zutage zu fördern. Auch im Falle dieser „Foto-Tanka-Strecke“, der so erhellende wie inspirierende Zeilen zum Bau- und Kompositions-Prinzip dieser Art von Poesie zur Seite gestellt sind. Gegängelt oder bevormundet wird der Leser dadurch keineswegs: Die vorliegenden Tanka haben durchaus die Kraft, alleine zu (be)stehen. Wobei sie zumindest dazu tendieren, mit den unmittelbar benachbarten Fotos im Auge des Betrachters eine enge Symbiose einzugehen. Den Reiz gemeinsamen Schreibens und Veröffentlichens macht dabei aus, das durchaus unterschiedliche Charaktere zusammenkommen:
du bist wie Feuer
und die Finger möcht’ ich mir
verbrennen, sagst du
– da verlier ich Kopf und Herz
ans sonst so stille Wasser (GH)
Bei folgendem Tanka fasziniert mich die vierte Zeile als Dreh- und Angelpunkt: sie kann in gleicher Weise auf die ersten drei Zeilen wie auf die letzte bezogen werden:
hellbraun
die Augen des Jungen
hin und her
an der Leine des Vaters
wiegt sich ein bunter Drachen (SK)
Das durch den Umschlag der „Weggefährten“ sehr prägende Labyrinth-Motiv kulminiert in folgendem Tanka – an der Seite eines eindrücklichen Fotos:
auf jeder Kreuzung
hab ich mich klar entschieden
doch dreh ich mich um
sind verworren die Fäden
an denen ich hänge (GH)
Selbst der lebensrettende Ariadne-Faden kann einen folglich zur Marionette machen! In einer besonderen Beziehung zum benachbarten Foto steht auch das Tanka‚ mit dem ich meine kleine Betrachtung beschließen möchte:
in der Dunkelheit
drei Tage und drei Nächte
bis am Ende
die Sonne wieder aufgeht
ist mein Name Arielle (SK)
Vom abschließenden Namen eines Luftgeists in seiner weiblichen Lautung abgesehen steht das Tanka ganz in einem biblischen Assoziationsfeld: jenem des Jona-Buches. Der Türgriff auf dem Foto zeigt den Wal-„fisch“, der Jona verschlingt. Matthäus 12, 40 liest das Jona-Buch zeichnishaft für Kreuz und Auferstehung Jesu. Ein durchaus österliches Motiv, wenn „am Ende / die Sonne wieder aufgeht“!