Über das Einlegen von Pausen

, , , , ,
über das Einlegen von Pausen

„Über das Einlegen von Pausen“, Georges Hartmann, Gedankenfreiheit
Taschenbuch, 116 Seiten, 2020, ISBN 978-3-945890-39-4

Rezension Dana Polz

„‚[…] auf das Eigentliche zurückgeworfen […]‘ das Wesentliche freizulegen“

Trägt zwar sein aktuelles Werk den vielbodigen – und durchaus pointierten – Titel Über das Einlegen von Pausen, hätte dieser alternativ Über das Abtragen von Schichten lauten können; scheut sich doch Autor Georges Hartmann, dessen „Gedankensplitter“ Schneckentempo man – hoffentlich! – gelesen hat, nicht, qua literarischen Alter Egos seine gelungen skizzierten Figuren zu häuten, Hautschicht für Hautschicht abzutragen, „[…] auf das Eigentliche zurückgeworfen“ (S. 50) das Wesentliche – ihr Wesen(tliches) – freizulegen:  „[…] [mit] vorsichtig[em] [Blick] zur Seite, wo ebenfalls kunstvoll eingewickelte Skelette herumsitzen, die ein Gläschen Sekt oder eine beladene Kuchengabel in der Knochenhand halten und alle so tun, als wäre es das Normalste auf der Welt.“ (ebd.)
Weiters konstatiert das prosaische Ich: „Einmal mehr ist es die mich wie eine Erleuchtung überfallende Erkenntnis des Endlichen und das uns allen beschiedene finale Ergebnis, nach dem wir in der Ewigkeit […] bei Null anfangen oder einfach nicht mehr da sind.“ (ebd.)
Während andere Lektüren in vagen Worten spirituellen Sehnsüchten nachgehangen hätten, konzentriert sich Hartmann auf ein Bewahren dessen, das erwähnte Sehnsüchte – andernfalls – bloß noch in Form leidlich befriedigender Erinnerungen tangieren könnten: buchstäblich Körperliches, buchstäblicher Körperlichkeit extrahiert. „Über das Einlegen von Pausen“ erzählt Hartmann in doppelter Weise: über das Pausieren, das Innehalten primär und das Einwecken von (Körper)Momenten sekundär – augenscheinlich! Dass nämlich das Augenscheinliche das Substanzielle gern als Membran überlagert – ergo das Substanzielle erst freigelegt werden muss –, ist keine Idee des Gestern. Dass wiederum das Substanzielle – (unter) dem Augenscheinlichen erst (hervor-)entrissen und der Sichtbarkeit preisgegeben – eines besonderen Schutzes bedarf, ist nach wie vor eine Problematik des Heute.
Hartmanns Sprache ist eine Sprache des Konservierens, ein Abdichten und Verkapseln des Substanziellen – hier: des literarischen Moments, des sprachlichen Partikels, an dem sich Literarizität messen lässt – zum Schutz vor allzu aggressiven (hermeneutischen) Oxidationsprozessen, ohne es der naturgemäßen Eintrübung, der Nicht-Einsehbarkeit seines ursprünglichen Zustandes zu überlassen. Was dem Licht, der Luft, dem gefräßigen Auge des Lesers ausgesetzt ist, droht zu verderben, und was zu verderben droht, kann post mortem betrauert oder ante mortem haltbar gemacht werden.
Dementsprechend entsagt Hartmann den narrativen – auf verlockende Weise fest im Grund literarischer Zeitlichkeit verankerten – Instanzen Davor und Danach, lässt sein prosaisches Alter Ego – die buchstäbliche Körperlichkeit – wie dessen Organismus mit all seinen Bestandteilen – im Einzelnen: das extrahierte buchstäblich Körperliche – im fragil konstituierten Während verharren: „Da ist dieses unruhige Klopfen hinter den Rippenbögen als wollte sich das Herz aus seinem Käfig befreien und vom gewohnten Schlag abweichende Schwingungen in der Blutbahn entfachen. Da pocht das schlechte Gewissen im Kopf, dass sich die Schädeldecke hebt und senkt. Da steht die Psyche vor dem endgültigen Schachmatt, und ich merke, wie der feste Halt unter den Füßen wegrutscht.“ (S. 73)
Es ist, um einen prosaischeren Ton anzuschlagen, Kunst und Wissenschaft zugleich, in ebenjenem Während Halt(ung) zu wahren, nicht in das eine oder das andere Extrem abzurutschen, in welchen das „Herz“ entweder tödlich pausierte oder in die – ebenso tödliche – Hypervitalität abdriftete, folglich den Konjunktiv wahrhaftig (Präsens) werden ließe und sich aus dem Körper jener Gefäß gewordenen Membran der Augenscheinlichkeit breche, die ihm zwar als Schutz vor dem (schädlichen) Außen dient, es zeitgleich aber zum Gefangenen erklärt.
Der „Schlusszug“ ist „mal wieder […] verpennt“ (ebd.); (augenscheinlich!) harmlos und bescheiden wird das auf Gleichgewicht bedachte Innehalten verkleidet, damit „die Geier“ (ebd.) nicht zum Zuge kommen, wenn „das in der Sonne goldgelb gebratene Stückchen Mensch endgültig umfällt“ (ebd.).
Was den Artisten Hartmann auszeichnet, ist, dass seine Lektüre trotz der Balance auf schmalem Seile, nicht an Dynamik, an Wendigkeit einbüßt: „Ich entwirre die Arme, greife […] nach der mit Milchkaffee gefüllten Tasse, genehmige mir einen herzhaften Schluck, beteilige mich trotz Nichtwissen an der mittlerweile hitziger geführten Debatte und werfe als ersten Beitrag ein zaghaftes ‚Der Ackermann …‘ in die Runde. Zwei Worte, ein Feindbild, und schon bin ich als ein in der Sache Kundiger ins Gespräch integriert, was mir einen inneren Lachanfall beschert, weil mir die Zusammenhänge weiterhin verschlossen bleiben, was in diesem Spiel jedoch niemanden stört […]“ (S. 51), noch deutlicher einzusehen auf S. 60: „Gedankenverloren laufe ich weiter, schlendere am Stand mit dem Backfisch vorbei, der in ein winziges Brötchen gepresst vorne und hinten herauslugt und ziemlich heftig mit Remoulade oder Knoblauchsauce bestrichen ist, die meistens schon beim ersten Biss zuerst das Kinn begrüßt, um dann neugierig in Richtung Kleidung abzubiegen, wo das Fettige in der Regel kleben bleibt, was die Finger in der Geschwindigkeit eines zum Unfallort preschenden Rotkreuzwagens in Aktion treten lässt, dessen Besatzung dann meistens zu retten versucht, was nicht mehr zu retten ist, und in aller Regel nur für eine gewaltige Verschlimmbesserung sorgt.“
Nicht nur sein prosaisches Ich lässt Hartmann „[…] hinter den Worten her [grübeln]“ (S. 72), auch und in besonderer Weise den apperzeptiven, den sich (selbst) im Narrativ des Leseprozesses beobachtenden Leser: „Kann der Mensch etwas anderes als er selbst sein? Das Nachdenken, ob über sich selbst, andere abstrakte Dinge oder was auch immer, ist ein Prozess, für ein Organ verantwortlich ist, von dem die Wissenschaftler sagen, dass sich dieses mit sich selbst unterhalten muss, um sich und den Wirt, in den es eingebettet ist, am Leben zu erhalten.“ (S. 109)

Fähigkeiten

Gepostet am

20. Februar 2020