Tagträume – Gedankengänge

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Tagträume

Georges Hartmann
Softcover, Fadenbindung, 12,5 x 19 cm, 80 Seiten.
Cover vorne und hinten, innen und außen bedruckt.
23 Schwarzweiß-Fotografien. 2024; 14 €; ISBN 978-3-945890-56-1

Rezension von Brigitte ten Brink

Mulaski, so heißt der Protagonist dieser Erzählung von Georges Hartmann, macht Urlaub in den Bergen, in einem Ort, in dem er schon seit zwanzig Jahren Urlaub macht. 

Wie ein Spion sitzt der Erzähler in Mulaskis Gehirn und gibt dessen Tagträume und Gedankengänge wieder. Er weiß genau, was in Mulaski vorgeht. Und in Mulaski geht viel vor und es geht kompliziert vor. Mulaski träumt keine einfachen Dinge, seine Gedanken wenden und drehen sich ineinander und umeinander. Sie reflektieren aufs Schonungsloseste seinen inneren Zustand und der besteht im Grunde aus einer tiefen Unzufriedenheit mit sich selbst, dem Gefühl einer ständigen Überforderung, der Frage nach dem Sinn des Lebens, der Frage danach, wie Wahrheit entsteht und der Frage nach dem, was gut ist und was böse. Es kreist also Schwerwiegendes im Kopfe Mulaskis. Gleichzeitig entwirft er dabei das Bild einer dekadenten Welt, deren Teil er ist.

Die Erzählung besteht aus zwölf Kapiteln, die so unterschiedliche Überschriften tragen wie Mulaski und die Nagelprobe oder Mulaski und die Zwischenwelt. Schon allein diese Titel lassen erahnen, welche Kämpfe Mulaski in sich und mit sich auszutragen hat.

Mulaski ist ein Suchender. Er sucht die Wahrheit in seinen Wahrnehmungen, die sich ihm auf die unterschiedlichste Art darbieten und die er auf die unterschiedlichsten Arten interpretieren kann. Erschwerend kommt hinzu, dass die Mitmenschen ebenfalls ihre individuellen Wahrnehmungen und damit Wahrheiten haben. Unterschiedliche Sinngehalte zu ein und derselben Sache gestalten die Wahrheitsfindung unübersichtlich, weil nämlich die Summe, der Durchschnitt oder einzelne Aspekte aller logischen Möglichkeiten für zutreffend erklärt werden können. (aus Mulaski und die Seifenblasen) Und weiter: Rot sagt der Eine und rot der Andere, doch die Schattierung von rot, die damit verbundenen Assoziationen, machen das Erlebnis von rot für jeden zu etwas Anderem, so dass rot zwar immer noch rot bleibt, in Wahrheit aber nicht mehr zutreffend definiert werden kann. Mulaski gestand sich ein, dass eine rein philosophische Betrachtung die Lage noch mehr verwirren und im Ergebnis die Gefahr heraufbeschwören würde, dass die ihn umgebenden Dinge möglicherweise nur irreale Seifenblasen darstellen … (aus Mulaski und die Seifenblasen). So verzettelt sich Mulaski immer mehr und tiefer in seine Tagträume und die damit verbundenen Gedankengänge

Georges Hartmann erzählt im Prinzip kleine, voneinander unabhängige Episoden, die jedoch durch Mulaskis regelmäßigen Besuche des Gasthauses in seinem Urlaubsort und die Anziehungskraft, die die Kellnerin dort auf ihn ausübt und seine nicht ausgelebte Affinität zu Rita, der ehemaligen Wirtin des Gasthauses, die noch immer einen großen Raum in seinem Kopf einnimmt, verbunden sind. Die Passagen, in denen Mulaskis Gedanken sich diesen beiden Frauen widmen, ziehen sich wie ein roter Faden durch die Erzählungen. 

Der Erzählstil Georges Hartmanns hat, wie auch schon in seiner Erzählung Nachher ist Freudloses Vorher etwas Kafkaeskes. Es ist manchmal verstörend, sich auf die Gedankengänge Mulaskis einzulassen, so absurd erscheinen sie auf den ersten Blick. Doch es ist auch sehr spannend, sie zu verfolgen. Georges Hartmann gelingt es hervorragend, die auktoriale, die allwissende Erzählperspektive einzunehmen. Nichts bleibt ihm als Erzähler verborgen und er kann aus dieser Position heraus über Mulaskis Weltsicht und seine Ansichten über die Menschen, die in dieser Welt sozialisiert wurden und sich in ihr bewegen, berichten. So entstehen immer wieder kleine philosophische aber auch Verhaltensweisen analysierende und entlarvenden Betrachtungen wie in dem Kapitel Mulaski und die Angst vor Ungewissheit. Hier beschäftigt Mulaski sich mit der Art und Weise von Informationsinhalten und deren Verbreitung: Der erbitterte Kampf um das exklusivste Stück Information und der daraus resultierende Ausbruch einer nicht für möglich gehaltenen Lust am Unglück der Anderen. Jeder für sich ein Paparazzi …

Dabei entbehren die Episoden, die Georges Hartmann Mulaski durchleben lässt, keinesfalls eines gewissen Humors. Oder ist es gar ein wenig Schadenfreude, wenn Mulaski sich im letzten Kapitel schlaflos im Bett herumwälzt? Es schien ihm endlos. Rücken-, Bauch- und Seitenlagen, mit angewinkelten oder gestreckten Beinen, mit unter dem Kopf verschränkten Armen, mit der Bettdecke zwischen den Knien oder diese halb von sich weggeschoben. (aus Mulaski und die Randnotizen) Es ist köstlich zu lesen, wie detailliert hier etwas beschrieben wird, was wohl jeder kennt. Als dann auch noch ein Hund zu bellen beginnt und zwei oder drei kleinere Kläffer Paroli zu bieten versuchen, ist es endgültig um Mulaskis Contenance geschehen. Er fühlte sich plötzlich als der ärmste aller im Dorf versammelten Hunde, ein Alleingelassener, der dem Chaos der eigenen Gedanken übereignet worden war, in dem er hilflos zu versinken drohte. (aus Mulaski und die Randnotizen

In diesem letzten Kapitel der Erzählung scheint noch einmal Mulaskis ganzes Dilemma auf, als er in dieser schlaflosen Nacht in seinem Gepäck ein altes zerfleddertes Büchlein mit Haiku und in diesem einen Hinweis auf seinen Urlaubsort und weitere Randnotizen entdeckt. Mulaski wäre nicht Mulaski, wenn es ihm gelänge, am Ende seines Urlaubs eine wirkliche Entscheidung über sein weiteres Vorgehen hinsichtlich dieses Fundes und seiner Beziehung zu Rita zu treffen. 

Fähigkeiten

Gepostet am

12. Oktober 2024