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„Skandalös“, Christof Blumentrath und Gabriele Hartmann, Renhai

Ringbindung, A6, 64 Seiten, 2018, ISBN 978-3-946112-24-0

Rezension Rüdiger Jung

Längst ist die Zahl der aus dem Japanischen adaptierten Formen der Kurz- und Partner-Dichtungen im deutschen Sprachraum Legion. Renhai, eine der jüngeren Errungenschaften, hat Gabriele Hartmann schon mit verschiedenen Co-AutorInnen praktiziert. Folgender Bauplan bzw. folgende Gebrauchsanweisung steht am Ende des jüngsten Bandes:

RENHAI – ein Kettengedicht
Wie im Rengay wechseln drei- und zweizeilige Verse miteinander ab. Beim Renhai teilen sich die beiden Autoren jedoch die Gestaltung des mittleren Verses. Alle Verse sind durch Link und Shift verbunden, auch der erste und der letzte. Meistens finden wir im Renhai einen Jahreszeitenbezug.

Für die Autoren beginnt das Abenteuer Renhai nicht mit dem ersten Vers, sondern mit der ersten Zeile des mittleren Verses. Diese Zeile wird vom zweiten Autor aufgegriffen und zum Zweizeiler ergänzt. Bevor der zweite Autor auch den ersten Vers verfasst, wird gemeinsam das Thema festgelegt. Danach schreibt der erste Autor den Abschlussvers.

Nun fehlt nur noch die Überschrift, meist eine prägnante Zeile der Dichtung.

Die Signaturen unter den Renhai bedeuten:
CB GH Christof Blumentrath: Vers 1 und Vers 2 Satz 2
Gabriele Hartmann: Vers 2 Satz 1 (Startvers) und Vers 3
(GH CB dementsprechend umgekehrt; vgl. S. 66 f

Natürlich reizt es, diese Tektonik im einzelnen Vers zu verfolgen bzw. nachzuvollziehen. Reizvoller indes scheint es mir auf Dauer, die Gedichte als Einheit zu lesen; dies umso mehr, wenn – wie bei Christof Blumentrath und Gabriele Hartmann – die Ko-Autoren auf Augenhöhe agieren und dabei bestens harmonieren.

Da führt es den archaischen „Helden“ (“ein Vogel / an der Seite“) vermittels eines modernen Navigations-Instrumentes ans „Ziel“. (S. 13, IN GEDANKEN). Da korrespondiert dem „Wolf“ als wahrem Archetyp jeder möglichen Bedrohung ein gefährdetes „allein nach Haus“. (S. 14, HINTER DER FASSADE). Da beginnt mit Schach-Taktik, was mit einer christianisierten Antigone als Märtyrerin endet (S. 22, DRITTER GESANG). Da kennzeichnet es – um beim Schach zu bleiben – ein BAUERNOPFER (S. 37), das „nichts als seine Haut“ „trägt“, dass der „Rückzug“ dieser Figur ja gar nicht zu Gebote steht. DER GESCHÄRFTE BLICK (S. 38) scheint das andere Ende eines kindlichen Traumas zu sein. Wenn „Schritte“ „Kastagnetten“ „mit tauben Ohren“ „verfolgen“, erinnert der Titel (EIN ROTES VERSPRECHEN, S. 45) an den farbenblinden Stier, der in der Stierkampf-Arena allenfalls auf die Bewegung des Tuches reagiert. GEBROCHENES LICHT (S. 48) scheint bei Chagall anzusetzen, um im Kartäuserkloster zu enden. Bis in den Titel hinein (DREH DICH NOCHMAL UM, S. 62) regiert an anderer Stelle die Emotionalität von Abschied, Verlassen-Werden, Zurück-Bleiben. Im abschließenden Text riskiert, wer sich mit Haut und Haar der Kunst hingibt, mit dem Odium des Wahnsinns: belegt zu werden. (S. 64, DER LETZTE PINSELSTRICH).

Rüdiger Jung

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Gepostet am

4. Juli 2018