„Paarungszeit“, Gabriele Hartmann
 Haiku aus 2018
 Ringbindung, A6 quer, 148 Seiten, 2019, ISBN 978-3-945890-31-08
Rezensionszitat Horst-Oliver Buchholz:
Sturmmond
wir streichen das Laken
glatt
Auf engem Raum nimmt das Haiku eine scharfe Wendung, baut so Spannung auf und führt ins Kontrastierende: 
Sturmmond, ein äußeres raues Naturereignis größerer Art gewendet ins Kleine, Private, fast Intime … das Glattstreichen eines Lakens. Wird das Laken glattgestrichen rein der Ordnung halber? Oder nach einer Liebesnacht? Vieles ist möglich, beliebig ist es nicht. So hat dieses Haiku vieles, das ein gutes Haiku ausmacht: eine überraschende Wendung, einen spannungsreichen Gegensatz, und es lässt auch in seiner Kürze Raum für den Leser. Ein gutes Haiku eben.
Eine Rezension von Rüdiger Jung:
Immer wieder beglückend, eine neue Jahreslese der Haiku Gabriele Hartmanns in Händen zu halten. Sie beherrscht ihr Handwerk. Das fängt an bei den Jahreszeiten:
 Winterlinge
 noch angekettet die Stühle
 im Straßencafé
 Ein Gedicht über uns. Wir nennen sie „Winterlinge” – die, die blühend den Aufbruch wagen, während „im Straßencafé” „die Stühle” „noch angekettet” sind. Auch die Zeitgeschichte findet bei Gabriele Hartmann zwanglos ins Haiku – schlicht und einfach und gerade deshalb so nachhaltig: 
 Auffanglager
 sie faltet
 Kraniche
 Die Autorin liefert keine Patentrezepte noch gibt sie vor, als Dichterin über jede Antwort zu verfügen: 
 was für Fragen! 
 mein Bonbon wechselt
 die Backentasche
 Eine kompromittierende? Dafür scheint mir die Antwort zu cool. Nein, ich denke eher an die ebenso verblüffende wie löchernde Frage eines Kindes. Wie dem auch sei: Bei harten Nüssen hilft der Wechsel der Perspektive. Da kann das Bonbon ein Anfang sein. Ambivalenz auch im folgenden Haiku: 
 rollender Donner
 die Muschelsucherin hält den Blick
 gesenkt
 Angst vor dem Gewitter? Oder eher der zielgerichtete Blick, der sich nicht beirren lässt ? Der schmale Raum des Haiku reicht Gabriele Hartmann für ausdrucksstarke Liebesgedichte, die Bände sprechen: 
 drei Wünsche
 dass sie nicht enden
 deine Küsse
 Bei der Fee im Märchen hat man drei Wünsche frei. wir kennen die Klippe: sich Belangloses zu wünschen, auf das Wichtigste gar nicht zu kommen. Wenn hingegen gleich der erste Wunsch „sitzt”, braucht es nur noch das zweifache Betätigen der Repeat-Taste. 
 alte Eiche
 gewachsen noch
 das Herz
 Inmitten einer Welt, die eher schrumpfende Herzen wahrnimmt, ein Wachsen, das nicht kühn behauptet, sondern vertrauensvoll konstatiert wird. Haben Sie, liebe Leserin / lieber Leser, je an die Vereinbarkeit von „Abwarten und Teetrinken” einerseits und „knisternder Erotik” andererseits geglaubt? Längst nicht so abwegig, wie es zunächst klingt: 
 knisternder Kandis
 wir lassen unser Gespräch
 noch etwas ziehen
 Als Pfarrer stoße ich immer wieder auf die zahlreichen religiösen Konnotationen im Werk der Autorin: 
 auch ich bin
 einer der Menschen
 hinter dem Zaun
 Ein Text, der für mich zutiefst geeignet ist, eine Passionsandacht zu bereichern. Verkürzt kennt die Passion drei Gruppen von Menschen: die, denen Leid zugefügt wird; die, die Leid zufügen; schließlich die Zuschauer. Natürlich ist das idealtypisch gedacht: Jeder von uns hat Anteil an allen drei Gruppen. Das Haiku hat etwas von einem Bekenntnis. Da gibt ein Mensch zu, als Zuschauer zu verharren, wo seine Stimme, sein Engagement gefragt gewesen wäre. Nicht weniger präzise die weihnachtlichen Texte: 
 Krippenspiel
 der Esel hat den Text
 vergessen
 Haiku haben keinen Titel, sonst könnte hier naheliegen: „Idealbesetzung”. Aber Vorsicht – so eindeutig müssen die Dinge nicht sein. Hat der Esel vielleicht nur vergessen IAH zu sagen – und ist kein grauer Ja-Sager mehr ? Weihnacht ist Trubel – und Trubel nicht das Eigentliche. Weshalb sich die Weihnacht vielleicht die letztmögliche Insel sucht: 
 vor dem Fest
 noch einmal
 die Stille
 Religiös konnotiert begegnet zweimal auch die Grenze aller kurzen Gedichte: das Schweigen: 
 Schneewolken
 der Eremit vertieft
 sein Schweigen
 Dem mystischen Erleben ist die Alltagssprache inkommensurabel. Weshalb die mystische Sprache das Paradoxon wählt. Und plötzlich zu steigern, zu „vertiefen” vermag, was sich nicht steigern lässt – das Schweigen. Trappisten stehen dafür, dass der Verzicht auf allzu oft schädliche Worte segensreich ist. Dagegen ein erneutes Paradox: 
 Fastenzeit
 er bricht
 sein Schweigen
 Einer, der zu oft und an den falschen Stellen geschwiegen hat, muss gerade dieses Schweigen brechen. Dann kann nahrhaftes Wortbrot daraus werden. 
 Rüdiger Jung