Nachher ist freudloses Vorher

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Nacher ist freudloses Vorher

Georges Hartmann,
Softcover, Fadenbindung, A6 hoch, 20 Seiten, matt, Cover vorne & hinten, innen & außen mit einem gespiegelten Foto bedruckt
alle Textseiten mit einem Hintergrundbild hinterlegt, ISBN 978-3-945890-47-9 5 €

eine kafkaeske Beobachtung …

Nachher ist freudloses Vorher S 5

Rezension von Brigitte ten Brink
Nachher ist freudloses Vorher – Gedankenschwere
Georges Hartmann

Nachher ist freudloses Vorher, der Titel dieser Erzählung erinnert an das geflügelte Wort von der Vorfreude, die angeblich die schönste Freude ist. Wenn sich die Vorfreude jedoch nicht bewahrheitet, weil das erwartete Ereignis eine Enttäuschung ist, dann ist dieses Nachher um nichts schöner und besser geworden als die Zeit vor dem Nachher, dem Vorher also. Allerdings muss es zwischen dem Vorher und dem Nachher eine Zäsur geben, einen Zeitpunkt, der bestimmt, wo das Vorher aufhört und das Nachher beginnt. Der Protagonist dieser Erzählung hat sich von einem von ihm bestimmten Augenblick an eine Frist von 3 Tagen gesetzt. Nach Ablauf dieser Frist muss das zu erwartende Ereignis eingetreten sein.

Der Name des Protagonisten wird mit Ludwig K. angegeben. Ein Zufall? Ich glaube nicht, denn in seiner Pubertät hatte Ludwig K. eine Idee entwickelt, die durchaus als kafkaesk bezeichnet werden kann und durch die er während seiner Schulzeit in eine Außenseiterrolle gedrängt wurde. Er plagte seine Mitschüler mit der Idee, was wäre, wenn die Menschen in dem Moment zur Welt kommen, wenn sie sterben und ihr Leben rückwärts verliefe, sie die Welt also im Zustand eines Neugeborenen verlassen würden?* Ihr Lebensende wäre auf jeden Fall umsorgter und behüteter, als ein Sterben im Alter, vermutete er. Doch dies war nur eines von vielen anderen „Denkmodellen“, wie er sie nannte, welche sich nicht als praktikabel erwiesen. Trotz seines Rufes als Träumer, war Ludwig ein guter Schüler und später ein äußerst fähiger Angestellter eines Großkonzerns, der im freie Hand in seiner Arbeit ließ, so dass er nicht auf Kontakt zu Mitarbeitern, auf den er keinen Wert legte, angewiesen war. Ludwig K. war, so kann zwischen den Zeilen gelesen werden, hochintelligent und ein Einzelgänger par Excellence, dessen Verhalten, falls man ihm eine Diagnose stellen möchte, auch eine autistische Komponente hatte.

Ja, und nun will dieser Ludwig K. nachweisen, dass Männer und Frauen und jegliches Leben im Grunde sinnlos sei, weil, wenn alle Unterschiedlichkeiten beseitigt seien, jedes Exemplar, bis auf das Geschlecht, die gleichen Eigenschaften und das gleiche Wissen wie der „Schöpfer alles Seins“ besitzen müssten und ihm somit „ebenbürtig wären“. Ein ebenso abwegiges wie mühsames und ermüdendes und unmögliches Unterfangen, bei dem der Leser schon allein über die Fragestellung und über die Art und Weise der Beweisführung stolpert und das letztendlich scheitert, weil sich das von Ludwig K. erhoffte Ergebnis nicht einstellt und ihm, aus Enttäuschung darüber, das Leben kostet.

So skurril und absurd die Beschreibung des Ludwig K. und seines Verhaltens, die Entwicklung des Themas, der Gedankengänge in der Geschichte auf den ersten Blick wirken, so sehr regt sie zum Nachdenken an. Was will Georges Hartmann dem Leser mitteilen? Es sind philosophische Fragen über den Sinn des Lebens, über das Sein, über die Relativität von Zeit und Unendlichkeit, über das Verstehenwollen des nicht Verstehbaren.

So merkwürdig der Inhalt, der Gegenstand der Erzählung auch erscheinen mag, so anschaulich, sachlich und gleichzeitig poetisch ist die Sprache mit exakten Beschreibungen von Tätigkeiten, eingestreuten biografischen Bruchstücken, mit Gedanken über den Sinn der Schöpfung und des Lebens, über den Ablauf desselben und über das Verhältnis von Zeit zur Ewigkeit. Die auktoriale Erzählweise, die es erlaubt Ludwig K. aus einer allwissenden und distanzierten Position heraus zu beobachten und zu beschreiben, trägt ihr Übriges dazu bei, ein Bild des Protagonisten als eines von einer Idee besessenen Individuums und seines Scheiterns zu entfalten. Der letzte Absatz lautet:

„Die von ihm (Ludwig K. Anm.) festgelegte und jetzt abgelaufene Zeitspanne hatte der Ewigkeit das Terrain überlassen und niemand der ihm Nahestehenden oder flüchtigen Bekannten war imstande nachzuvollziehen, was ihn zu diesem endgültigen Schritt bewegt haben mochte. Die Zeit hatte sich in die Unendlichkeit geflüchtet, ohne darin zu verharren.“

Dieser letzte Satz „Die Zeit hatte sich in die Unendlichkeit geflüchtet, ohne darin zu verharren.“ bedeutet er Hoffnung oder Resignation? – Diese Frage stellte ich mir am Ende der Lektüre.

*Diesen Gedankengang verfolgte auch der amerikanische Schriftsteller F. Scott Fitzgerald in seiner Kurzgeschichte „The Curious Case of Benjamin Button“ aus dem Jahr 1922, die 2008 von David Fincher mit Brad Pitt und Cate Blanchett in den Hauptrollen verfilmt wurde, jedoch den von Georges Hartmann in seiner Erzählung aufgegriffen philosophischen Aspekt bedeutend unterschwelliger behandelte.

Fähigkeiten

Gepostet am

28. August 2021