eine Rezension von Brigitte ten Brink
Kontaktaufnahme
Norbert Flemming: Kontaktaufnahme. Haibun 2023.
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Norbert Flemmings Haibun sezieren Momentaufnahmen sowohl des äußeren als auch des inneren Erlebens und begeben sich auch hin und wieder in eine Rückschau von Ereignissen und beleuchten diese aus der Warte der Erinnerung heraus.
Seine Haibun enthalten nicht unbedingt die herkömmlicherweise praktizierte deutlich erkennbare Gliederung des Textes in Prosa und Lyrik- also Haiku-Anteil. Manchmal fällt es sogar schwer, das Haiku als solches zu identifizieren, hält es sich doch nicht an die bekannten formalen Regeln. Und manchmal fragt man sich beim Lesen auch, gehört dies noch zum Erzähltext oder ist es das Haiku, so fließend ist die Sprache des Autors. Sie changiert innerhalb eines Textes zwischen prosaisch und lyrisch, wenn er z. B. die Übertragung eines Fotos via Bluetooth in sein MacBook beschreibt. Für die Enttäuschung, die ihn überfällt, weil das Meeresglitzern im Sonnenschein, das er einfangen wollte, auf dem Foto nicht das wiedergibt, was er gesehen hat, findet er wunderbar detailliert beschreibende Worte. Der Leser wird mitten in die Perspektive des Autors gezogen, sieht, was der Autor gesehen hat.
„Und so werde ich dir nur schwer vermitteln können, wie Myriaden von kleinsten Spiegelungen mein Auge zu bannen vermochten, es Punkt für Punkt und Bogen für Bogen immer weiter hinausführten. Erst auf dem Weg dorthin verschwammen sie zu der Spiegelfläche, die die Grenzlinie zwischen Wasser und Luft scharf markiert.
Der Horizont – zum Greifen nah, jetzt noch einen Schritt wagen!
Ihn denkend überwinden und … und dann?
werde ich die Szene noch einmal fotografieren – mit dir.“1
Passagen, die ich als Haiku empfinde, wie die soeben zitierte, stehen oft einzeilig am Ende oder gegen Ende des Textes, allerdings abgehoben durch Leerzeilen oder durch Einfügen von Leerstellen innerhalb einer Zeile. Oder bin ich da voreingenommen, weil das, was bei einem Haibun exponiert am Ende steht, das Haiku ist? Ein Haibun muss aber nicht unbedingt mit einem Haiku enden. Das Haiku kann auch im Text stehen oder ganz fehlen.
Ein Haibun handelt jedoch stets von einem Ereignis aus dem Erleben, dem Empfinden des Erzählers, von seinen Beziehungen innerhalb seiner jeweiligen Umgebung und gerade die kleinen Dinge sind es, die diese Erzählform spannend und anrührend machen. Und diese kleinen Dinge sind es auch, die Norbert Flemming zum Schreiben veranlassen. Sei es der Stau auf der E42 hinter Liège auf dem Weg in den Bretagne-Urlaub, währenddessen plötzlich ein beschwingtes Chanson von Charles Dumont aus dem Autoradio ertönt und mit dem Seufzer
Frankreich rückt näher – in Hörweite
kommentiert wird2 oder ein virtuelles Gespräch am Grab der Eltern mit den Verstorbenen
Worte Glockenschläge von weit her
an dessen Schluss er feststellt, dass er Streichhölzer vergessen hat, um ein Grablicht anzuzünden.3
Norbert Flemming hat sein Buch in 6 Kapitel mit Überschriften eingeteilt. Dabei weißt das 4. Kapitel, mit der Überschrift „Inseln“, Besonderheiten auf. Zu einem Haiku von Gabriele Hartmann sind 5 Haibun entstanden, die von einem Briefwechsel zwischen zwei namenlosen Schreibern, die sich mit „Liebe Freundin“ bzw. „Lieber Freund“ anreden, handeln. In diesem Briefwechsel tauschen sie sich über die Assoziationen und Gedanken aus, die das Haiku in ihnen auslöst und über ein gemeinsames Erlebnis. Als Leser fragt man sich, was verbindet die beiden Schreiber? Waren sie einmal kurz davor, ein Paar zu werden? Alleine dieses Kapitel wäre eine Besprechung wert, sprengt aber an dieser Stelle den Rahmen.
Denn ist gibt noch weitere Merkmale, die Norbert Flemmings Haibun auszeichnen. Da wären die Dialoge, die Passagen wörtlicher Rede4, zu nennen sowie die vielen Zitate oder Anspielungen5 auf Gedichte oder Lieder, die immer wieder auch in den Haiku auftauchen, jedoch jedes Mal als solche gekennzeichnet sind. Der Leser weiß also, welcher Dichterin oder welchem Dichter und welchem Singer-/Songwriter (in diesem Fall sind es „nur“ Männer) die entsprechende Stelle zu verdanken hat.
Mein Lieblings-Haibun in dieser Sammlung ist das Haibun „Nachtkonzert“, das in dem Brief-Haibun-Kapitel „Inseln“ zu finden ist. Hier zitiert Norbert Flemming Zeilen aus dem Song „Eve of Destruction“ aus dem Jahr 1965, damals gesungen von Barry McGuire, die gerade in der heutigen Zeit nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben, wenn es heißt: „The eastern world it is explodin‘, violence flarin‘, bullets loadin‘ … and human respect is disintergratin‘ …“ (S. 42)
1 Mit den Wellen, S. 10
2 Gute Fahrt, S. 5
3 Zu Besuch, S. 16/17
4 Lysdia Brüll in ihrem Essay „Was ist ein Haibun“ in:
Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku- Gesellschaft,
Nr. 41 (1998), Nr. 42 (1998), Nr. 45, (1999), Nr. 49
(2000). Zu finden auf der DHG Webseite Hallo Haiku
unter Sommergras / Fachartikel / 41-42-45-Brüll-Was ist ein
Haibun gegen Ende des vorletzten Absatzes: „Ein
belebendes Moment kann auch die Einflechtung einer
kurzen indirekten oder direkten Rede sein.“
5ebenda, Ende des vorletzten Absatzes: „Die Einarbeitung
von Anspielungen, Sprichwörtern und Redewendungen,
das Zurückgreifen auf Gedanken oder Texte berühmter
Dichter oder anderer Persönlichkeiten sind gern benutzte
Stilmittel.“