„Knoten und Perlen“, Gabriele Hartmann, Haiku aus 2014
Ringbindung, A6 quer, 144 Seiten, 2015, ISBN 978-3-945890-15-8
Rezension Rüdiger Jung
Acht Netz- und fünf
Printpublikationen weist Gabriele Hartmann nach, in denen Haiku von ihr im Jahr
2014 erschienen sind. Mit Recht eine gefragte Autorin – national und
international. Von den Jahreslesen, in denen sie bisher ihre Haiku gesammelt
hat, ist „Knoten und Perlen“ die bei weitem umfangreichste. Wir lesen jeweils
eines ihrer Haiku auf Französisch, Spanisch und Niederländisch, 26 auf
Englisch, 113 auf Deutsch. Manche Haiku Gabriele Hartmanns sind buchstäblich
Klassiker geworden:
Wintermorgen
der alte Geigenbauer
stimmt das Schweigen
Überaus charmant nimmt das Sterntalermädchen seinen Weg zu Magritte:
fallende Sterne
lass einfach deinen Hut auf
Das atmet Mehrdeutigkeit, Spontaneität, Frische. Ein Lob der Natur, wenn sie
sich um unsere menschlichen Grenzen nicht schert:
Stadtmauern
diesseits und jenseits
das Lied der Amsel
Da sind dann auch die Pole von Immanenz und Transzendenz nicht mehr streng zu
scheiden. Ganz im Sinne der Äsop’schen Fabel kann ein „Hund“ uns die Augen auf-
und übergehen lassen:
Wahlsonntag
ein Hund gibt seine Stimme
ab
Jaul! Unmittelbar leuchtet die Erkenntnis auf, die Stimme „ab“-gegeben und bis
zum nächsten „Wahlsonntag“ nichts mehr zu melden zu haben.
Kulturtechniken lösen einander ab, schneller denn je. Die bedrohliche Vokabel
„Demenz“ im Hinterkopf, nimmt dann folgender Text Fahrt auf:
Online-Banking
er betrachtet den Knoten
im Taschentuch
Angst kommt auf, sich zu verlieren angesichts der Furie des Verschwindens:
warumsoschnellichmeinmeinleben
Früher nannte man das Memento mori!
Die „Aufgabe“ der Poesie scheint sich gleich geblieben zu sein: zu suchen, was
bleibt, inmitten dessen was vergeht.
Freizeichen
in Gedanken noch einmal
ihre Stimme
Auch die Liebe versichert sich des Bleibenden im Vergänglichen:
ein Stern, ein Stern
unsre Träume sind noch gleich
deine Hand in meiner
Der letzte Blick soll einem Text gelten, der in diesem Band gleich dreisprachig
präsent ist:
Mondlicht
der leere Stuhl hat aufgehört
zu schaukeln
Das gelungene Haiku sagt „einfach“, „was ist“ und eröffnet gerade damit eine
Vielschichtigkeit, die das Gedicht seinem Leser zur Aufgabe macht. Denn der
stellt zwischen den verschiedenen Wahrnehmungen Beziehungen her, die plausibel,
aber nicht zwingend („alternativlos“) sind. Möglich, dass das Mondlicht auf den
Stuhl eine beruhigende Wirkung hat. Möglich auch, der dralle Mond hat Platz genommen
– und der Wunsch „zu schaukeln“ nützt dem „leeren Stuhl“ gar nichts mehr.
Rüdiger Jung