„Im Fluss“, Silvia Kempen und Gabriele Hartmann, 20 Rengay
handgearbeiteten Miniaturbuch mit Lesezeichen, A6, 24 Seiten, 2018
Rezension Brigitte ten Brink
Noch bevor auch nur ein Wort gelesen wurde, ist man entflammt.
Entflammt für ein kleines liebevoll gestaltetes Büchlein im A6-Format.
Das Cover, ein Aquarell in mitreißend fließenden Rot-, Blau- und Grau-Tönen
– Feuer, Wasser, Luft, Erde – macht neugierig auf die innere Dramaturgie:
20 Rengay auf 20 Seiten.
Rengay, ein für den Leser nicht immer leicht zu verstehendes und
nachzuvollziehendes Genre, wurde in Anlehnung an die japanische
Renku-Dichtung von dem Amerikaner Gary Gay entwickelt.
Rengay bestehen aus 6 sich abwechselnden drei- bzw. zweizeiligen Versen.
Schreiben zwei Autoren zusammen ein Rengay, verfasst jeder im Wechsel
zwei Dreizeiler und einen Zweizeiler nach dem Schema 3-2-3-3-2-3.
Die Partner legen vorher ein Grundthema fest, doch ein Rengay sollte
sich nicht ausschließlich auf einer einmal gewählten Ebene abspielen.
In dem sie ihren Worten und Ideen, weitere Aspekte, Schauplätze und Topics
zuschreiben (Link), betreten die Autoren von Vers zu Vers neue Ebenen
(Shift) und erweitern damit sozusagen den Horizont ihrer Dichtung.
Bedeutungstragende Worte dürfen nicht wiederholt werden.
Eine Zeile der fertiggestellten Dichtung wird am Schluss zur Überschrift.
Silvia Kempen (SK) und Gabriele Hartmann (GH) beherrschen diese Technik
meisterhaft. Die Entwicklung der Geschichten, ihre von Vers zu Vers
voranschreitende Gestaltung ist manchmal atemberaubend, wie in dem Rengay
UND SCHWEBT. Es beginnt ganz ruhig und sanft:
Gänseschrei / eine Feder schwebt … / und schwebt (Vers 1, SK).
Doch schon im nächsten Vers ist aufkeimende Dramatik zu spüren,
wenn es heißt über dem Pergament / Spiegelungen (VERS 2, GH),
die sich dann in der ersten Zeile des dritten Verses mittels vage(r)
Schatten weiter festigt, um in einem hochaufsteigenden Rossini-Konzert (SK)
zu münden, das dem unermüdlich kreisenden Pegasus … Schaum / vorm Maul (Vers 4, GH)
beschert bis am Schluss im sechsten Vers der am Anfang angedeutete Brief
vehement wieder zurückgenommen wird: sein Wort? / er reißt den Brief / wieder an sich (Vers 6, GH).
Oder ruhiger im Ton, jedoch nicht weniger dramatisch in SCHON GEBUNDEN.
Dieses Rengay handelt vom Werden und Vergehen, von Intrigen und einem Neuanfang.
Auf der Klaviatur der Stimmungen darf natürlich die Melancholie nicht fehlen.
Leise, wie es ihrem Wesen entspricht, kommt sie in ABSEITS DES WEGES daher.
Der Clou dieses Büchleins ist jedoch seine Reise durch den Weltraum, seine
Reise zu den verschiedensten Planeten und Asteroiden bzw. Planetoiden unseres Sonnensystems.
Der von Zeus/Jupiter in die Unterwelt verbannte Saturn grüßt als
The Lord Of The Rings in dem schon erwähnten ABSEITS DES WEGES.
In GESCHMIEDET UND GEHÄMMERT präsentiert sich die Sonne ihrem Platz
gemäß als Mittelpunkt der Lebensfreude sowohl in sozialer
(beim Opa-Tag und der Geburtstagsfeier mit Freunden) als auch in
materieller Hinsicht mit 24 karätigem Gold und einer Reise nach Venedig.
Nicht nur viele Sagen, Märchen und Mythen erzählen vom Mond. Auch das Rengay
IN SILBER GEFASST hat eine Geschichte über ihn, den Auslöser von Zyklen wie
den Gezeiten und dem Regelzyklus der Frau. Und so wie Gold das Metall ist,
welches der Sonne zugeordnet wird, ist Silber das des Mondes.
Zwei meiner Lieblings-Rengay in diesem Buch sind die über Ceres und Vesta,
auch wenn diese beiden nicht zu den „großen“ Planeten gehören.
Sie zählen zu den Kleinplaneten oder Planetoiden.
Ihnen sind die Rengay SCHON GEBUNDEN und EINTAGSFLIEGEN gewidmet.
Auch in der römischen Mythologie spielen die Namensgeberinnen dieser
Planetoiden eine große Rolle, ist doch Ceres die Göttin der Erde und
der Ernte und Vesta die Hüterin des Feuers.
Aber was heißt hier Lieblings-Rengay. Da wäre noch DER STERNENHIMMEL zu erwähnen.
Dieses Rengay erzählt von Juno/Hera, die von Jupiter/Zeus, der die Gestalt eines
Kuckucks angenommen hatte, überlistet wurde: aus weiter Ferne / Kuckuckusrufe (Vers 2, GH)
// durch den Wald – / beim Wolkenbruch / Schutz suchen (Vers 3, SK), zur Schützerin der
Familie und der Ehe ernannt wurde und einem Asteroiden den Namen gab. Oder die vier letzten
Rengay, die sich jeweils von Vers zu Vers fortschreitend, einem der vier Elemente widmen und
dabei in jedem Vers einen neuen Aspekt hinzufügen und zu einem weiteren Schauplatz führen.
UNTER TAGE handelt von der Erde, UND SCHWEBT von der Luft, MARINEBLAU vom Wasser und
RAUCHZEICHEN vom Feuer.
Unglaublich gut, wie es Gabriele Hartmann und Silvia Kempen gelingt, Astronomie,
Astrologie, Mythologie, modernes Leben und ein bisschen Esoterik miteinander zu verknüpfen,
dabei Spannung aufzubauen, Geschichten voranzutreiben und den Bogen zu schlagen vom ersten zum letzten Vers.
Es würde den Rahmen sprengen, hier jede gelungene Verknüpfung, jede überraschende
Wendung, jede neue Idee zu den jeweilig gewählten Themen aufzuführen und jedes Rengay
in seiner individuellen Eigenheit zu bewerten. Deshalb bleibt nur die Möglichkeit
selbst zu lesen und der Aufforderung im Rengay LÖSUNGEN zu folgen: BILD dir deine Meinung.
Brigitte ten Brink