„gefurchte Erde“, Gabriele Hartmann
Haiku aus 2017, Band 1
Ringbindung, A6 quer, 112 Seiten, 2018, ISBN 978-9-945890-18-9
Rezension Rüdiger Jung
Wer sich auf die Haiku Gabriele Hartmanns einlässt, erhält eine vollendete Einladung zur Meditation:
Teeblätter
die Welt
verstummt
Und lernt Gedichte kennen, die gewohnte Perspektiven wieder und wieder heilsam durchbrechen:
letzte worte
ein Schirm nach dem anderen
öffnet sich
„letzte worte“: wer denkt da nicht an die letzten Äußerungen berühmter Menschen, wie sie u. a. Ernst Jünger gesammelt und aufgezeichnet hat? Der Trauerkontext ist durch “letzte Worte“ evoziert; im Falle unseres Haiku denke ich eher an die buchstäblichen Nach-Rufe, die immer zweierlei Verdacht ausgesetzt sind: zum einen zu beschönigen und mithin zu lügen, zum anderen, dass sich ein Lebender auf Kosten des Tote interessant macht. So fragt man sich schmunzelnd, ob die Schirme, die sich öffnen, einsetzendem Regen trotzen, oder einem Falsch oder Zuviel öffentlicher Rede.
Panzerglas
was uns
verbindet
Stünde da statt „verbindet“ „trennt“, hätten wir es mit einer Allerwelts-Feststellung zu tun. Aber gerade das „verbindet“ verblüfft, zumal im Blick auf eine Grenze des Miteinanders. Es eint uns als Menschen, dass wir uns immer wieder an dem, was uns trennt (dem „Panzerglas“), abarbeiten müssen!
Solchen Perspektivwechsel hat das Haiku wie so vieles in der Natur gelernt:
Regenwolken
die Möwe
wird weiß
Grau und unscheinbar mag sie zuvor gewesen sein, die Möwe – nun ist sie weiß und hat es dem Hintergrund (den „Regenwolken“) zu danken. Was wäre das Licht – ohne den Schatten? Was die Farbe – ohne den alltagsgrauen Hintergrund, den sie leuchtend durchbricht?
Auffanglager
sie faltet
Kraniche
Ein einziges Wort (”Auffanglager“) reicht, um den Fluchtkontext wachzurufen. Die Silbe „fang“ spricht von einem Eingeschränkt- und Festgesetztsein da, wo man sich Sicherheit versprach. Das Falten der Kraniche ist keine Bastelei aus Langeweile; es ist vielmehr mit der Hoffnung konnotiert, dass der Seele aufs Neue Flügel wachsen werden! Das gibt einem Begriff, der in der finstersten Zeit unserer Geschichte zu den missbrauchten gehörte, seine Würde zurück:
Heimat
einer ließ
das Licht an
Ich lese „einer“ – muss ich doch unwillkürlich an Tom Sawyers Tante Polly denken, die in Mark Twains berühmtem Kinderbuch dem vermissten Lausbub nachts ein Licht ins Fenster stellt. Kindheit – sicher zeit- und generationsspezifisch erlebt – zeichnet sich nach bei Gabriele Hartmann:
Wanderzirkus
mein Blick folgt
dem Mond
Das mag im ersten Moment überraschen: Geht der Blick des Kindes denn nicht dem Weg nach, den der (vermutlich geliebte) Wanderzirkus genommen hat? Wie dem auch sei – der Blick Richtung Mond ist irgendwo zielgenauer, stimmiger: den Mond wird auch der Wanderzirkus immer noch im Auge haben, wohin auch immer es ihn verschlagen haben mag.
Man mag mir nachsehen, wenn nun mein Beruf ins Spiel kommt: als Pfarrer begeistere ich mich eben auch für geistliche Deutungs-Möglichkeiten, die nicht wenige der Hartmann’schen Haiku eröffnen:
Morgenandacht
ein Stein quert
den See
Ein geniales Bild für „Andacht“ (gleich, welcher Tageszeit): ein Stein, der geworfen wird, den See zu streifen und zu “queren“, eben nicht einfach zu versinken. Zur „Andacht“ gehört eine ganze Fülle von persönlichen Assoziationen und Deutungsmöglichkeiten‚ für die schier nicht endenden konzentrischen Wellen einstehen‚ die der Stein bei Berührung des Wassers auslöst.
Jerusalem …
der Überraschungsgast
zählt die Stühle
Eine spezifisch christliche Deutung könnte an der Passionszeit andocken: Ausgangspunkt „Die Reise nach Jerusalem“ – ein Spiel um zupackende Schnelligkeit, weil die Zahl der Stühle die der Beteiligten um einen unterbietet. Jesus bietet sich als „Überraschungsgast“ an, der im Passionsgeschehen „zwischen allen Stühlen“ sitzt, auf dass niemand mehr nach ihm dieses Schicksal teilen muss.
schwerer Atem
am Ende der Leiter
der Himmel
Ausgangspunkt für mich: die Obsternte; das Besteigen der Leiter, bis der Baum unter, höchstens: neben mir und über mir nur noch der Himmel ist (in dem sich „sky“ und „heaven“ der Angelsachsen nicht mehr trennen lassen)‚ „schwerer Atem“ mag auf einen deuten, der die Leiter allzu schnell genommen hat – im übertragenen Sinne aber auch auf einen, dem die Kräfte versiegen. Man muss gar nicht eigens auf Genesis 28 und die Jakobsleiter verweisen, dass sich in diesem Text ein reiches Potential an Trost und Hoffnung eröffnet.
Rüdiger Jung