GEORGES HARTMANN
Es war an einem nasskalten Januarabend, an dem wir uns zum ersten Mal trafen, um unsere Inspirationen in siebzehn Silben aufs Papier zu bringen. Die Gemütslage wurde durch heißen Tee, einen behagliche Wärme abstrahlenden Ofen, flackerndes Kerzenlicht, die Aussicht durch gardinenlose Fenster auf eine von Straßenlaternen matt beleuchtete Häuserzeile und ein Stück schwarzen Himmels, aus dem der Regen fiel, in wohlige Schwingungen versetzt. Draußen kalt, innen warm und gemütlich, ein typischer Wintertag in der Großstadt. Keine Schneeflocken, keine wie mit Zuckerwatte befrachteten Hausdächer oder Bäume, es war fast so, als wäre es erst Anfang November.
Beim Haiku-Schreiben muss man hart am Thema bleiben, die jahreszeitliche Stimmung einfangen und das zum Ausdruck gebrachte natürlich selbst erlebt haben. Ich erinnerte mich an meine noch nicht allzu weit zurückliegende Kindheit, an Schlittenfahren, Schneemann bauen, Schneeballschlachten und den dampfenden Atem, der uns Kinder in den Habitus von Zigaretten rauchenden Erwachsenen versetzte. In Gedanken durcheilte ich Myriaden von Wintersituationen und notierte eine Flut von Bezugswörtern auf das vor mir liegende Papier. Aber Wörter wollen zu sinnvoll zusammenhängenden Sätzen verbunden werden, die beim Lesen die Seele berühren, einzigartig sind. Die selbstgebauten Hürden türmten sich zusätzlich auf und erwiesen sich in der Folge schwerer als die Beachtung der Haiku-Regeln. Es war wohl möglich, die Silbenzahl einzuhalten und das Wort „Schnee“ mit einzuflechten, aber etwas „Lebendiges“ auszusagen, das den Leser betroffen macht, das erschien bei diesem Anspruch und dem Schmuddelwetter fast schon ausgeschlossen. Die erste Folgerung: Jahreszeitliche Haiku dürfen auch auf den im Kopf gespeicherten Erinnerungen basieren.
Ich schielte rasch auf die Blätter der beiden Mitstreiterinnen, ohne auch dort einen erkennbaren Fortschritt zu entdecken. Es wurden gedankenschwere Blicke getauscht und unterm Tisch an einer Hand die Silben abgezählt. Es beschlichen mich erste Selbstzweifel. Von spontanen Eingebungen keine Spur. Lediglich eine Handvoll Zustandsbeschreibungen, die beim Lesen schon so platt wirkten, dass ich sie gleich wieder verwarf.
Angeblich haben die alten Meister nicht an ihren Worten herumgebastelt und nach neuen Ausdrücken oder Wortkombinationen gesucht, die ein poetisches Gesamtbild ergaben. Sie waren bestimmt Naturtalente, welche die Intuitionen des Augenblicks für jedermann sichtbar machten. Derlei Gedanken nisteten sich in meinem Gehirn ein, waren kaum zu verdrängen und unterminierten den eigenen Wunsch auf ein Haiku. Also, ein Meister kennt nicht die Phase des Anfängers und schreibt Haiku in einem Guss, ohne zu zögern oder im Nachhinein endlos an den Sätzen herumzufeilen. Wenn die „Montage“ eines Haiku diesem die Ursprünglichkeit nimmt, was verpönt ist, weil es dann zu sehr nach Lyrik schmeckt – die es ja nicht sein soll – , sind Haiku in drei Kategorien einzuteilen:
a) stümperhafte
b) meisterliche
c) künstlich erzeugte, die Gefahr laufen, aufgrund mangelnder Spontaneität vom „Kenner“ als Konstruktionen entlarvt zu werden.
Wir waren nur zu dritt, fasziniert von der Sache, die für uns Neuland bedeutete, und unterwarfen uns an diesem Abend nicht einem ach so strengen Reglement. Ich will sogar zugeben, dass meine ersten „Produkte“ mit tatsächlich Erlebtem wenig gemein hatten und allesamt Ausdruck meiner inneren Scheu vor den Dingen waren, als wäre ich einer, der außerhalb der Realität lebt, sich in Träumen verliert und ausnahmslos der Vorstellung, wie es in der Welt sein sollte, nachhängt. Auch verspürte ich einen besonderen Hang, mich in die Materie von Gegenständen hineinzudenken und diesen somit gleichsam ein Eigenleben zuzusprechen, was somit lupenreine Fiktion ist. Trotzdem: Der Anfänger in mir schweift erstmal ab.
Welche Empfindungen mögen wohl einen alten Schlitten befallen, der – von den Kindern vergessen – im Keller vor sich hin rostet? Der vor Jahren im Winter in ständiger Bereitschaft stand, wenn es galt, verschneite Hänge herabzurodeln. Der teilnahm am bunten Treiben, integriert war und dessen Bestimmung es war, benutzt zu werden. Hat so ein Gegenstand eine Erinnerung oder gar ein Gefühl? Was ist, wenn man ihn vergisst, ihn nicht mehr seinen Zweck erfüllen lässt und er mit Staub bedeckt in die hinterste Keller-Ecke ausgemustert wurde?
Durch das gitterbewehrte Rechteck des fast blinden Kellerfensters dringt ein Sonnenstrahl, in dem die sichtbar gewordenen Staubpartikel aufgeregt herumschweben – den Schlitten erreicht er nicht. Draußen hört man Fetzen von Kinderlachen, spürt man die Vorfreude auf einen vergnüglichen Nachmittag. Und wenn man sich anstrengt, sieht man, vom Sonnenlicht zwar stark geblendet, ein ganz zartes Schneetreiben. Ein Schneeball trifft das Fenster, und die Schwingungen des dumpfen Aufpralls quälen den Eingeschlossenen, verhöhnen den Vergessenen. Und wenn jetzt noch das Geräusch einer zuklappenden Haustür hinzukommt sowie die Ahnung, dass er, der alte Schlitten, womöglich durch ein neueres und besseres Modell abgelöst worden ist, das nun, wie er früher, im Hausflur stets griffbereit platziert steht, dann öffnet sich in mir ein Bild von über die Melancholie hinausgehender Verzweiflung, ja, von Agonie.
Ein Stimmungsbild, in dem der Schlitten – von Empfindungen heimgesucht – quasi zum lebenden Objekt wird? Eine Vision von Altsein und Nicht-mehr-gebraucht werden, des Ausgeschlossenseins vom Geschehen, verspottet gar und abfällig betrachtet. Vielleicht auch eine Anklage gegen das übersteigerte Konsumieren einer Wegwerfgesellschaft. Ich ließ mich von diesen Gedanken forttreiben, ich fabulierte, setzte die Worte zusammen, versuchte die Stimmung einzufangen, und hoffte, diese den anderen verdeutlichen zu können. So entstand mein erstes Haiku, ein zugegebenermaßen konstruiertes:
Der Schneeflocken Tanz
dringt nicht zum alten Schlitten
im staub’gen Keller
Es löste keine Begeisterungsstürme aus, und wir waren uns nicht darüber im klaren, ob es sich hierbei überhaupt um ein Haiku handelte oder nicht doch eher um ein Senryu, das zwar von der Silbenzahl her mit dem Haiku identisch ist, in dem die Themen jedoch nicht auf jahreszeitliche Naturgegebenheiten beschränkt sind.
Das Verständnis für Haiku ist für mich eine schwere Sache geblieben, weil mir die Fähigkeit des genauen Beobachtens abhanden gekommen ist. Das Wissen um die Natur ist verkümmert, zahlreiche Blumen oder andere Erscheinungen kennt man nicht mehr beim richtigen Namen, weiß nichts über ihre Wachstumsperioden und sonstigen Eigenschaften.
Selbst wenn ich glaube, eine Situation den Regeln entsprechend wiedergegeben zu haben, seziert die Kritik der an unseren Zusammenkünften mittlerweile recht zahlreichen Teilnehmer den Text nach allen Regeln der Kunst, wobei deren eigenes Empfinden den Worten Ausdruck verleiht, ohne zu hinterfragen, was der Schreiber auszudrücken versucht.
Ein gelungenes Haiku oder Senryu ist für mich ein Werk, das mich in eine besondere Stimmung versetzt, Assoziationen hervorruft und mir nahegeht. Angesichts der mit dem „Dreizeiler“ verbundenen Bedeutung, der bis zu seinem Entstehen zu überspringenden Hürden und den kritischen Äußerungen der anderen, den eigenen Schwierigkeiten des Sehens von Situationen und deren allgemeingültiger Interpretation, habe ich in den vergangenen Jahren mehr Haiku und Senryu verworfen als realisiert, wobei selbst der verbleibende Rest – von einigen Ausnahmen abgesehen – meinen selbstgesteckten und vom eigenen Geschmack abhängigen Ansprüchen an Qualität nicht immer gerecht wird. Mein Eindruck ist, dass es mir leichter fällt, ein bestimmtes Thema allein für mich zu „bearbeiten“, da ich mich dann, durch die eigene Stimmung stimuliert, zu immer neuen Variationen verleiten lasse.
Das Haiku-Schreiben in einem zu großen Kreis erzeugt eine Art Zugzwang und steht allzu oft unter dem Motto „Wer landet auf dem Siegertreppchen?“. Außerdem verzettelt man sich zu sehr in Grundsatzdiskussionen, so dass der Wesensgehalt der Zusammenkünfte oftmals verloren geht und man sich am Ende nur mehr als berufener Hüter des wahren Haiku empfindet und so zum Kritiker wird, der nicht mehr in der Lage ist, selbst kreativ zu werden.
Das Haiku, geschrieben aus einer bestimmten Situation heraus, allein oder im Kreis wohlwollender Freunde, ist heute fast schon ein esoterischer Zeitvertreib mit philosophischem Hintergrund und meditativem Charakter. Ich bin froh, dass mir all dies im Rahmen des bereits beschriebenen Kreises erschlossen wurde und mir zu einer für mich neuen Welt des Ausdrucks verholfen hat.
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veröffentlicht in Schreibtisch 2024, Hrsg. Karina Lotz, verlag edition federleicht