Georges Hartmann
Softcover, Fadenbindung, 12,5 x 19 cm, 84 Seiten.
Cover vorne und hinten, innen und außen bedruckt.
Eine Schwarzweiß-Fotografie. 2025; 13 €; ISBN 978-3-945890-58-5
Nachwort
Der Tübinger Reklamekasper (https://www.reklamekasper.de/) von Corinna Kern und Norbert Kraas bringt allwöchentlich auf den Punkt, was aktuell berührt: gut recherchierte Fakten, garniert mit berückenden Fotos und pointierten Zitaten. Historische Tatsachen werden in Erinnerung gerufen und Buchempfehlungen ausgesprochen. Philosophisch fein austariert wechseln die Themen und kreisen doch permanent um unser kollektives Gewissen, erweitern kulturelle Horizonte und schüren Neugier auf den nächsten Artikel.
Und dann gibt es da noch dieses Kommentarfeld, über das man eigene Vorstellungen veröffentlichen und so das Exposé aus Leser-Perspektive rein subjektiv erweitern kann.
Die Kommentare, die ich frohen Herzens von 2020 bis 2024 schrieb, balancieren zwischen Erinnerungen, Ängsten und Hoffnung, thematisieren Beziehungen, Liebe, Leidenschaft, Freude, Frankreich, Alter, Abschied, Unkraut, Tiere und Tod. Und hier und da findet sich auch ein Haiku …
Rezension von Brigitte ten Brink:
Georges Hartmann ist immer wieder für eine Überraschung gut. Nach der kafkaesken Erzählung „Tagträume“ ist nun ein Buch mit 27 kurzen Geschichten erschienen. Blaue Wunder. Gedankenspiele hat er es genannt. Ausgangspunkt dieser Gedankenspiele sind die literarischen und / oder fotografischen wöchentlichen Posts auf der Webseite des Reklamekaspers auf www.reklamekasper.de von Corinna Kern und Norbert Kraas. Der Beobachter und Grübler, der tief im Autor verwurzelt ist, entdeckte in diesen Worten und Bildern Geschichten und nutzte die Kommentarfunktion dieser Seite, um hier seine Überlegungen zu den Posts in Form von Gedankenspielen darzulegen. Mal haben diese Erlebnisse aus seiner Vergangenheit wie ein Déjà vu aufploppen lassen oder aber große Nachdenklichkeit über aktuelle Ereignisse geweckt. Aus den ursprünglichen Kommentaren ist nun dieses Buch entstanden.
Wenn auch im allgemeinen Sprachgebrauch die Redewendung „sein blaues Wunder erleben“ die Androhung einer bösen Überraschung beinhaltet, sind die kleinen feinen Prosastücke dieses Buches eine Offenbarung gegenteiliger Art. Jedes von ihnen enthält ein blaues Wunder an gedanklichem Tiefsinn. Die ab und zu eingestreuten Haiku bereichern den Text zusätzlich durch ihre lyrische, manchmal auch eher pragmatische Zuspitzung des vorher Gesagten. In Auf der Rückseite des Mondes (S. 16 ff) erinnert sich Georges Hartmann an einen Abend in der Frankfurter Sternwarte. Sein abschließendes Haiku beschreibt die Situation, in der ein Junge ein Mädchen kennengelernt hat und sich fragt, welche Diskussionen es auslösen wird, wenn er dieses Mädchen seinen Eltern vorstellt.
Als sich das Mondlicht
in ihrem Nasenring brach
wurde er mutlos (S. 18)
Immer wieder blitzt der Melancholiker in Georges Hartmanns Gedankenspielen auf. So wenn er sich gleich im ersten Gedankenspiel der Lotterie des Lebens (S. 5 ff) zuwendet und darüber sinniert, was geworden wäre, wenn er unter vollkommen anderen Umständen z. B. mit schwarzer Hautfarbe in Amerika auf die Welt gekommen wäre (S. 6). Selbst das Gute, das ihm in seinem Leben widerfahren ist, wird dahingehend hinterfragt, ob er dies angesichts des Leids und der Not vieler Menschen überhaupt verdient hat. Und so endet dieses Gedankenspiel mit dem Haiku
Melancholie
des Herbstes – tief spüre ich
in diesen Blues hinein (S. 7)
Und schon vertiefe ich mich in die folgende Geschichte, die mich mitnimmt in ein weiteres Gedankenspiel mit der Überschrift Treibgut oder die zwei Schalen einer Muschel (S. 8 ff). Hier fallen Georges Hartmann die unterschiedlichsten Orte ein, in denen sich Treibgut ansammelt. Das sind bei Weitem nicht nur vom Meer angeschwemmte Fundstücke, auch im All gibt es mittlerweile dieses Treibgut. Und dann gibt es noch diese unsichtbaren Dinge, die sich überall herumtreiben, wie Viren, man denke nur an Corona, oder Strahlen. Und sind nicht zuletzt auch die Menschen nicht irgendwie Treibgut, Getriebene, die schwer zur Ruhe kommen? Ist es Zufall oder Vorhersehung, wenn zwei Menschen sich finden und wissen, dass sie zusammengehören?
Der Ausdruck Gedankenspiele lässt im ersten Moment einen eher spielerischen, lockeren Umgang mit den dort angesprochenen Themen vermuten. Doch mitnichten – es handelt sich um sehr differenzierte, ernsthafte und diffizile Ausführungen, auch wenn sie nicht eines gewissen (Galgen-)Humors entbehren. Hinreißend und überraschend sind oft die Zusammenhänge, die hergestellt werden, die Kurven und Richtungswechsel, die die Gedankenspiele in langen verschachtelten Sätzen nehmen. Die Schauspielerin Grete Weiser (1907-1970) soll einmal gesagt haben: Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage (vgl. auch Buches von Franca Pariane. Die Gedankenspiele Georges Hartmanns scheinen auf ähnliche Weise zu entstehen. Er schreibt und während des Schreibens kommen immer weitere Aspekte zur Ursprungsidee hinzu, die aufgenommen werden müssen. So nimmt er den Leser mit auf die Reise durch seine sich immer weiter ausdehnende Gedankenwelt. Wem dabei langweilig wird, ist selber schuld.
Frauenmantel neben dem Abflussrohr … Ich lausche dem Klang der Sprache, die meine Muttersprache hätte werden können, wenn das lothringische Deutsch der Familie keinen Strich durch meine Rechnung gemacht hätte und bewundere im Video den in Hochgeschwindigkeit dozierenden Mann auf dessen Wanderung durch die Straßen, sehe wie er sich bückt, auf ein grünes unscheinbar aussehendes Pflänzchen deutet, das sich zwischen den einen Gehweg bildenden Steinplatten ganz zart nach oben reckt und lausche seinen Worten, wie er darüber doziert, dass dieses Arrangement auf zahlreiche Kleinlebewesen (Käfer, Wespen, Würmer usw.) oder Vögel (Spatzen, Meisen usw.) wohl wie ein gedeckter Tisch wirke, an dem es etwas zu futtern gibt. (S. 37)
Fast atemlos vom Lesen dieses Absatzes folge ich neugierig und interessiert den weiteren Ausführungen, die in einem Resümee enden, welchem ich mich als Leserin nur anschließen kann: Ich danke Norbert für die aufschlussreiche Lehrstunde, die meinen Blick auf das angeblich nutzlose und oft als ungepflegt verschrieene Grün zu einer gewandelten Betrachtung geführt hat. (S. 39)
Im Nachwort heißt es im Originalton Georges Hartmanns: Die Kommentare, die ich frohen Herzens von 2020 bis 2024 schrieb, balancieren zwischen Erinnerungen, Ängsten und Hoffnungen, thematisieren Beziehungen, Liebe, Leidenschaft, Freude, Frankreich, Alter, Abschied, Unkraut, Tiere und Tod. Und hier und da findet sich auch ein Haiku … (S. 81)
Besser können die Inhalte dieser Gedankenspiele nicht zusammengefasst werden. Sie gehen jeden Menschen an, sind zutiefst menschlich und so spricht Georges Hartmann immer wieder auch dem Leser aus dem Herzen und lässt ihn mitfühlen und verstehen.
Rezension von Brigitte ten Brink