131 Haiku 2023 von Gabriele Hartmann
Ringbindung, A6 quer, farbiges Innencover, 136 Seiten
ISBN 978-3-945890-54-7;15 €
3 Rezensionen!
Rezension von Brigitte ten Brink
Gabriele Hartmann legt mit „blaue Stunde“ ihr Haiku-Jahrbuch mit 125 Haiku des Jahres 2023 vor. Wer sie kennt, weiß, dass ihn hier wieder ganz besondere Texte erwarten: tiefgründige, abgründige, nachdenkliche, humorvolle, naturverbundene. Es sind wundervolle poetische und gleichzeitig anschauliche Miniaturen aus dem Leben, dem persönlichen Erleben, aus dem Jahresablauf und den Ereignissen des vergangenen Jahres.
Auch wenn sich die „blaue Stunde“, die der Sammlung den Titel gibt, physikalisch und somit wissenschaftlich erklären lässt, birgt sie im allgemeinen Verständnis etwas Geheimnisvolles, nicht Erklärbares. Dieses besondere blaue Licht, welches wir in der Dämmerung kurz bevor es dunkel wird, wahrnehmen, lässt eine ganz eigene Stimmung aufkommen und birgt eine besondere Faszination, der sich kaum ein Mensch entziehen kann. Das titelgebende Haiku
blaue Stunde
wo unsere Gefühle
wurzeln
findet sich auf S. 61. Es beinhaltet eine wunderbare Erklärung dieses Phänomens, denn es geht in die Tiefe menschlichen Empfindens und beschreibt diesen Vorgang mit einfachen Worten.
In Gabriele Hartmanns Haiku geht es grundsätzlich um das Leben in all seinen Facetten, um das äußere und das innere Leben und Erleben und was es mit den Menschen macht. Es ist egal, welche der Seiten in dem postkartengroßen Büchlein mit Ringbindung ein Leser aufschlägt, er wird direkt in den konkreten Augenblick eines Ereignisses gezogen und das auf unterschiedlichste Art und Weise.
Räuber & Gendarm
eine Stimme
die zum Essen ruft
(S. 6)
und gleich daneben
altes Tagebuch
mit jedem Wort vertieft sich
das Brennen
(S. 7)
Auf dieser Doppelseite prallen scheinbar zwei verschiedene Welten aufeinander: Einer mehr oder weniger unbeschwerten Szene aus der Kindheit (wahrscheinlich war es lästig, aus dem Spiel herausgerissen zu werden, um zum Essen ins Haus zu kommen) wird eine Szene aus der Welt eines Erwachsenen gegenübergestellt, der in den Sog der Erinnerungen gerät. Vielleicht gehört aber das erste der beiden Haiku zu eben diesen Erinnerungen und diese Reihenfolge ist beabsichtigt. So wie das ganze Büchlein in seiner Konzeption und der Anordnung der Haiku einer Choreographie folgt, die sich durch das Jahr und die Jahreszeiten bewegt. Es beginnt mit einem Haiku zum Jahreswechsel und es endet mit zwei Haiku, die in der Zeit zwischen den Jahren angesiedelt sind.
Wintermond
wir zweifeln
und tasten
(S. 6)
Feiertage wir kalibrieren Frieden
(S. 134)
Synkopen
zwischen den Jahren
Überraschungsgäste
(S. 135)
Drei Haiku, die die Unsicherheit des gesamten Jahres 2023 widerspiegeln. Wohin steuern wir als Individuen aber auch als Mitglieder einer Gesellschaft und Bewohner einer Welt, die alles andere als friedlich ist? Und dann sind da die Leerstellen, die Momente der Überraschung, man könnte auch sagen der Überrumpelung, in denen keiner weiß, wohin Entscheidungen und Ereignisse wirklich führen, was sie bewirken werden.
Auf den Seiten dazwischen gibt es Haiku-Momente zu lesen, die berühren, erstaunen, dem Leser aus der Seele sprechen, Dinge auf den Punkt bringen, analysieren, zum Nachdenken anregen oder auch einfach „nur“ beschreiben und trotzdem vieles sagen.
herbstlicher Wind
die Kronen der Bäume
füllen sich mit Himmel
(S. 95)
Es sind Ereignisse aus dem menschlichen und zwischenmenschlichen Bereich, aus dem gesellschaftlichen und sozialen, auch aus dem politischen und immer wieder Bilder aus der Natur und aus der Wissenschaft, für die Gabriele Hartmann eine wunderbare poetische und gleichzeitig konkrete Sprache findet. Und immer wieder auch klingen philosophische und metaphysische Töne an, die ins Übersinnliche gleiten und ins Innerste dringen.
verlorene Zeit
durch zerbrochene Scheiben
tropft Glockenklang
(S. 74)
Gerne würde ich noch mein Lieblings-Haiku aus diesem Büchlein zitieren, doch ich kann mich nicht entscheiden …
***
Rezension von Rüdiger Jung:
atarashimi – der neue Blick für Althergebrachtes, Originalität
Mit diesem Stichwort beginnt die Kurzfassung von Klaus-Dieter Wirths Haiku-Glossar am Ende der „Haiku-Agenda 2023“. Und genau dieses Stichwort scheint mir verantwortlich für meine Begeisterung und Faszination, wenn Gabriele Hartmann Jahr für Jahr die veröffentlichten Haiku des Vorjahres zu einem neuen Band zusammenstellt. Das scheint mir das Besondere und zugleich das Paradox ihrer poetischen Wirkung zu sein: Ihre Haiku sprechen mich direkt und unmittelbar an. Und das, obwohl da immer wieder ein überraschend neues Sehen und Hören, eine absolut verblüffende und gleichwohl poetisch stimmige, schlüssige, überzeugende Sprache am Werke sind. Das gibt ihren Haiku Tiefe. Und zugleich etwas von einem Palimpsest, das sich auf verschiedenen Ebenen deuten und erfassen lässt:
Räuber & Gendarm
eine Stimme
die zum Essen ruft
(S. 8)
Präzises Notat einer vertrauten Situation der Kindheit? Gewiss. Aber „Räuber & Gendarm“ benennen nicht nur ein Spiel, sondern auch die Dimension von Gut und Böse. Und die „Stimme“, die – vermutlich mittels elterlicher Autorität – das Spiel beendet, lässt sich weitaus existenzieller lesen …
Ähnlich doppelbödig:
Verwandtenbesuch
er schlägt einen Knick
ins Paradekissen
(S. 19)
Ein letztes Mühen um den Beweis, dass alles seine Ordnung hat, und sich die Verwandten davon überzeugen können? Oder nicht doch eine Übersprungshandlung – dem Wunsch geschuldet, der Besuch möge nicht allzu lang verweilen? Mir kommt der Verdacht, ein gutes Haiku hätte mehr mit den Fragen zu tun als mit den Antworten!
Nachtvorstellung
ein Boule-Spieler fixiert
den Mond
(S. 31)
Da sage ich gar nichts zu – da bin ich einfach nur geplättet!
Schlaglöcher
randvoll mit Himmel
alles was bleibt
(S. 38)
„Schlaglöcher“ – gewiss keine strahlende Bilanz. Aber „randvoll mit Himmel / alles was bleibt“: Da hat wirklich alles noch einen zweiten, tieferen, verblüffenden Effekt, den in Rechnung zu stellen zu einer sehr beglückenden Lebenshaltung zu werden vermag. Wer so genau nicht nur die Natur, sondern auch sich und andere in näheren Augenschein nimmt, der kommt nicht umhin, auch das Gespaltene, Widersprüchliche, Unvereinbare wahrzunehmen:
für immer
hinterm Rücken verborgen
gekreuzte Finger
(S. 43)
Wer um solche Zweischneidigkeit weiß, hat wohl immer am besten einen Plan B:
Antrittsbesuch
der Kandidat studiert
den Fluchtweg
(S. 55)
Ein Konzert ohne jeden technischen Schnickschnack als Gänsehaut-Erfahrung – das gibt es nach einem reinigenden Gewitter auch in der freien Natur:
nach dem Gewitter die Amsel unplugged
(S. 78)
Bekannt ist das optische Vexierspiel, das ich entweder als Kelch oder als zwei einander zugeneigte Gesichter deuten kann. Bekannt ist das Glas, das mir – je nach Disposition – halb voll oder halb leer erscheint.
Ein ähnliches Vexierspiel vollzieht sich bei Gabriele zweisprachig:
autumnal wind
the crowns are filling
with sky
(S. 94)
herbstlicher Wind
die Kronen füllen sich
mit Himmel
(S. 95)
Eine erste Beobachtung würde sagen: Die Kronen leeren sich. Der Baum verliert seine Blätter. Aber gerade die leeren Äste und Zweige „füllen sich“ mit dem Azur eines leuchtenden Oktoberhimmels.
dicke Luft
ich öffne mein Buch
an der alten Stelle
(S. 107)
Taktik – und nicht die schlechteste: Inmitten eines schwelenden Konflikts mit kindlichem Charme (und entsprechender Selbstverständlichkeit) die Reset-Taste drücken.
Was dann kommt, lese ich als Liebeserklärung:
Winterabend
er schneidet die Äpfel
nach Bauernart
(S. 117)
Sommers Ende, der Urlaub vorbei, im Hinterkopf läuft vielleicht noch – sagen wir Boys of Summer von Don Henley:
Herbstanfang
im Wäschekorb sammeln sich
Shirts & Schatten
(S. 122)
Seit Issa versichern die Haiku-Dichter die Mitgeschöpfe ihres Mitempfindens. Auch anders herum wird ein Schuh draus:
nah beim Grab
die gesenkten Köpfe
der Pferde
(S. 131)
Rüdiger Jung
***
Rezension von Dr. Volker Friebel auf haiku-heute.de:
„Blaue Stunde“, ich muss nachschauen und finde, das ist die Zeit kurz vor Sonnenauf- und kurz nach Sonnenuntergang, in der sich die spektrale Zusammensetzung des Lichts ändert. Grund ist der schräge und damit längere Weg durch die Ozonschicht, die die anderen Lichtspektren vermehrt absorbiert, so dass Blau übrig bleibt. Dichterisch ist die Dämmerung als Zwischenzustand besonders interessant, und Blau nicht minder, durch seine Assoziation mit Ruhe, Weite, Offenheit, aber auch mit Melancholie.
Die „blaue Stunde“ von Gabriele Hartmann versammelt ihre besten Haiku aus dem Jahr 2023. Ich blättere durch das Werk mit der praktischen Spiralbindung: 134 Seiten, je Seite ein Haiku, insgesamt habe ich 123 gezählt, denn einige Übersetzungen stehen dabei. Eine schöne Jahresernte, aus der ich gleich einige meiner Favoriten zitieren will.
Verwandtenbesuch
er schlägt einen Knick
ins Paradekissen
heftet sich
an meine Fersen – die Nacht
ein bellender Hund
ein Schwan
und seine Spur im Schlamm
wir vergeben der Welt
letzte Nacht
in ihren Wimpern
glitzern Tropfen
Mutters Gesangsbuch
abgegriffen
das Hohelied der Liebe
Krieg – das Lied in meinem Kopf will nicht enden
Artilleriefeuer in der Ferne bellt ein Fuchs
Familientreffen
die Augen der Männer
vom gleichen Blau
Platzregen
die Trauergemeinde wechselt
ihre Farbe
Eine anregende Sammlung. Natürlich, die Gefahr, dass mit den Jahren des Haiku-Schreibens sich Routinen entwickeln, besteht, ich kenne das zur Genüge von mir selbst. Vielleicht ist es die wichtigste Kunst beim Schreiben von Haiku, immer wieder neu zu beginnen, die Welt immer wieder wie zum ersten Mal zu sehen, jedenfalls immer staunen zu können. Das ist nicht einfach. Gabriele Hartmann gelingt es wohltuend häufig. Und wenn es gelingt, sind das die Texte, die stehenbleiben, die auch andere Menschen inspirieren.
Dr. Volker Friebel