„beim dritten Klang“, Gabriele Hartmann
Haiku aus 2017, Band 2
Ringbindung, A6 quer, 112 Seiten, 2018, ISBN 978-3-945890-22-6
Rezension Rüdiger Jung
Entdeckungsreise – einmal mehr! – in der reichhaltigen alljährlichen Haiku-Ernte Gabriele Hartmanns, die immer wieder neue und verblüffende Sichtweisen öffnet – auch auf dem Vernehmen nach ganz vertraute Begriffe:
Mutterboden
die Begutachtung der Hände
vor dem Essen
„Mutterboden“ ist positiv, mehr noch: lebensnotwendig konnotiert Nährboden, Mutter Erde, vielleicht noch „Die gute Erde“ von Pearl S. Buck. In Gabriele Hartmanns Haiku letztlich das notwendige Übel des Spielbodens für ein Kind, wobei die Mutter – Erzfeindin allen Drecks par excellence – „vor dem Essen“ hochnotpeinlich „die Begutachtung der Hände“ ihrer Tochter vornimmt.
Man sollte nicht meinen, alles sei klar; das Leben steckt – zumal im unvermuteten Detail – voller Überraschungen:
schulmedizinisch
austherapiert … der Schamane
legt auf
Wen oder was legt er auf? Die heilsame Hand oder den Telefonhörer? Und wenn letzteres (was eine Tour de force durch die Menschheitsgeschichte einschließt), warum? Weil „austherapiert“ auch für ihn gilt? Er kein Notnagel sein will? Oder Ferngespräche keine Hilfe sind, wenn Heilung menschliche Nähe voraussetzt?
Solcherart sind die Fragen, die Gabriele Hartmann aufwirft. Und es ist ihr und unser Trost, dass Grenzen, die wir ziehen oder die uns gezogen sind, nicht automatisch für alles und jeden in der Natur gelten:
Stadtmauern
diesseits und jenseits
das Lied der Amsel
Gabriele Hartmann hat ein geschärftes Sensorium für die Zwiespälte und Ambivalenzen im Zwischen- und Allzumenschlichen; vielleicht, weil sie sich nicht zu schade ist, sich selbst genau unter die Lupe zu nehmen:
Vorhaltungen
die Lust an einem alten Stich
zu kratzen
Wer kennt sie nicht, die gegenläufigen, aber gleichzeitigen Impulse von „Tut-doch-weh!“ und Die-Finger-nicht-davon-lassen-können. Das kann selbst den Moment torpedieren, der in den verschiedensten Religionen, Kulturen und Kalendern für die Möglichkeit eines völligen Neubeginns steht:
Neujahrsmorgen
wir streuen Salz
in alte Wunden
Für uns beginnt das neue Jahr im Winter. Salz zu streuen macht also durchaus Sinn im Blick auf Eis und Glätte. Salz in alte Wunden zu streuen ist gegen alle Heilung, vollkommen kontraproduktiv. Aber so sind wir nun einmal und die Dichterin nimmt es deutlich und ungeschönt wahr.
Apropos „wahrnehmen“! Das Haiku folgt den Sinnen; so betreibt es seine eigene, im besten Falle und Sinne kindliche Ursachenforschung, die alles, was uns die Meteorologie zu bedecktem Wetter sagen mag, frohgelaunt und wohlgemut Lügen straft:
bewölkter Himmel
sorgsam stopft er
seine Pfeife
Oder will „er“ nur dagegenhalten?
Zweifelsohne wird er im deutschen Haiku aufrecht erhalten: der Traum Goethes aus dem “west-östlichen Diwan“‚ dass Orient und Okzident sich vereinen mögen:
… alter Teich
noch einmal werfe ich
die goldne Kugel
Warum nicht? Dieses erhellende Treffen von Bashos Furu-ike-ya mit den Brüdern Grimm? „Sei kein Frosch muss nicht der Weisheit letzter Schluss sein: Wer immer der Adelung des Kleinen (Glitschigen dar!) kritisch gegenübersteht, kann sich von Kobayashi Issa eines Besseren belehren lassen!
Eines meiner Lieblings-Haiku will ich abschließend zitieren, weil es die Dichterin einmal mehr als sorgsame Wahrnehmerin und Hüterin des Ambivalenten erweist:
geschmiedete Ringe
allmählich werden sie
enger
Das muss man nicht als Werbeblock für die Ehe lesen: Enge kann wehtun. Nur: steht hier „enger“ wirklich für Schmerz und Gefängnis – oder nicht vielmehr für das Geschenk unwillkürlich gewachsener Intensität der Beziehung? Die Fragen der Hartmann’schen Haiku werden so viele Antworten finden wie LeserInnen.
Es steht zu hoffen: viele!
Rüdiger Jung