Foto-Tan-Renga und Renhai von Gabriele Hartmann und Angelika Holweger
Hardcover, Fadenbindung, Naturpapier
Brigitte ten Brink
Auf verschlungenen Pfaden
Rezension
Angelika Holweger und Gabriele Hartmann: Auf verschlungenen Pfaden. Tan-Renga-Haiga & Renhai; bon-say-verlag, 2020. ISBN 978-3-945890-27-1. Hardcover, Fadenbindung, Format 13,5cm x 21,5 cm, 56 Seiten. 14,00 €. www.bon-say.de
Wer dieses Buch in die Hand nimmt, dem fällt schon, bevor auch nur die erste Zeile gelesen wurde, das künstlerisch anspruchsvolle und wunderbare Layout von Gabriele Hartmann auf. Das nach einem Foto von Angelika Holweger gestaltete Cover in Grün- und Gelbtönen weckt Assoziationen an Bashôs Froschteich, der Titel „Auf verschlungenen Pfaden“ weist auf Geschichten, die ergründet und gefunden werden wollen und die verschiedene Lesarten zu lassen, je nach Betrachtungsfocus und Stimmung des Lesers.
Das Besondere an den Tan-Renga-Haiga ist, dass die Texte nicht in die eigentlichen Bilder eingefügt sind, sondern darunter in die transparenten Spiegelungen dieser Bilder. Diese Spiegelungen wiederholen sich, wiederum gespiegelt, am unteren Rand der jeweils gegenüberliegenden Seiten mit den Renhai – eine Gestaltung, die das Buch allein schon beim Durchblättern zu einem visuellen Genuss macht. Auf jeweils vier Seiten Augenschmaus mit großem Lesegenuss folgt eine Doppelseite Lesegenuss pur mit je einem Renhai auf einer Seite. Die Kürzel „AH“ für Angelika Holweger und „GH“ für Gabriele Hartmann geben Auskunft über die Autorenschaft der Verse. Auf den insgesamt 56 Seiten findet der Leser 16 Tan-Renga-Haiga und 31 Renhai.
Für die künstlerische Gestaltung und Herausgabe dieses Buches wurde Gabriele Hartmann durch die Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur ein Projektstudium gewährt.
Das Buch beginnt, was mir persönlich sehr gut gefällt, mit einem Tan-Renga-Haiga, das den unterschiedlichen geografischen Lebensräumen der beiden Autorinnen Rechnung trägt. Angelika Holweger (AH) wohnt im Süden Deutschlands, Gabriele Hartmann (GH) in der Mitte der Republik, was sich, wenn es gewollt ist, schon mal im sprachlichen Ausdruck niederschlagen kann.
beim Christeele
in seim Lädele eikaufe
für d Kender de graischt Fraid
einander zugeneigt
Vogel und Fisch
AH / GH
Das dazugehörige Foto von Gabriele Hartmann zeigt zwei Holzmasken, die wiederum gut zur „Schwäbisch-Alemannischen Fasnet“ passen würden. Besonders bei den Narrenzünften rund um den Bodensee gibt es Masken, die an Vögel und Fische angelehnt sind.
Das Buch enthält durchweg starke Texte, mit starken Versen, die oft alleine als Haiku stehen könnten.
so viel Licht
schweißnasse Haut
eng umschlungen tanzen
zwei Schatten
so viel Licht auf ihren Flügeln
wähle Blende 4
Sternschnuppen
aus der alten Kapelle
himmlische Klänge
GH / AH GH / AH
Ein Renhai beginnt, mit der ersten, fett gedruckten Zeile des zweiten, mittleren Verses. In diesem Fall schrieb sie Angelika Holweger (AH). Gabriele Hartmann (GH) ergänzte die zweite Zeile dieses Verses. Daraufhin verfasste AH den dritten Vers und erst danach GH den ersten, den Anfangsvers.
Die Leidenschaft des ersten Verses, wenn von oben nach unten gelesen wird, weicht im zweiten Vers der sachlichen Überlegung, bei einem Foto die richtige Blende zu wählen, um den Glanz der Flügel einzufangen. Im letzten Vers dann endet sie in einer Nacht voller sinnlicher und spiritueller Eindrücke. In der Reihenfolge der Entstehungsgeschichte des Renhai liest es sich umgekehrt: Erst wird das Licht auf den Flügeln (ein religiöses Symbol oder ein Symbol für die Gotteskraft?) mit einer Kamera eingefangen, dann endet die fast schon sakral wirkende Nacht in Leidenschaft.
Es ist jedoch vollkommen gleichgültig, in welchem Ablauf die Renhai gelesen werden, von oben nach unten, d. h. vom ersten bis zum dritten Vers oder in der Reihenfolge ihrer Entstehung, sie hinterlassen in jedem Fall einen nachhaltigen Eindruck.
Alle Texte in diesem Buch verbinden, wie oben im Beispiel gezeigt, Spiritualität, Emotionalität, Naturereignisse und -schauspiele mit alltäglichen und aktuellen Situationen. Gefühle und Erinnerungen, Familie und andere Beziehungen, Märchenhaftes und Überliefertes und nicht zu vergessen die Musik finden ihren Platz in den Versen der Autorinnen.
verbrämte Worte
so viele Sterne
auf den Flaggen –
überall Himmel
Mutters Bone China
die Wolken tragen Goldlitzen
verbrämte Worte
der Diktator sagt
er wolle nur ihr Bestes
AH / GH AH / GH
Hier steht ein Kaffeetisch mit edlem Porzellan, so zart mit seinem leuchtenden Goldrand wie Wolken beim Sonnenuntergang, als Gegenentwurf zur politischen Realität, in der ein Diktator das Volk auf seine Linie einschwören will. Und dieses Volk schwenkt bereitwillig seine Fahnen mit den vielen Sternen und glaubt an den Himmel. Ich denke beim Lesen sofort an Amerika und einen Präsidenten, der sich an der Macht halten will, indem er das Blaue vom Himmel lügt, aber auch an andere Staaten, in denen Politiker die Alleinherrschaft an sich reißen wollen.
In den Renhai „ohne Maske“ und „geschwätzig“ wird die derzeitige Realität in lyrischer Form und drei Versen auf den Punkt gebracht.
ohne Maske
Dona nobis pacem
wir singen
ohne Maske
ob sie lächelt?
verschleiert ist Luna
tiefe Verneigung
der Chef de Rang begleitet uns
zur Tür
AH / GH AH / GH
geschwätzig
neue Tweets
im Minutentakt – die Menschheit
hält den Atem an
abends die geschwätzigen Spatzen
aus dem bunten Efeu
sie erzählt Spukgeschichten …
viel zu oft füllt er
unsere Gläser
GH / AH GH / AH
Grandios wie Angelika Holweger und Gabriele Hartmann ihre Gedanken auf vielen Ebenen spielen lassen, sie miteinander verknüpfen und dem Leser so wunderbare und vielschichtige kleine Geschichten aus dem Leben und über das Leben erzählen.
Zum Abschluss hatte ich vor, einen Lieblingstext zu zitieren, doch es sind mir so viele ans Herz gewachsen, dass es mir unmöglich ist, einem einzigen den Vorrang zu geben.
***
Rezension Traude Veran
Auf verschlungenen Pfaden
Aus dem bon-say-verlag kennen wir eine größere Anzahl liebevoll gestalteter Leseminiaturen, wunderbare Beispiel der Handwerkskunst. Diesmal aber stellen Angelika Holweger (AH) und Gabriele Hartmann (GH) ein hart gebundenes Buch vor, das nicht nur durch seine Schönheit bezaubert, sondern auch, einem Kranz von kleinen Labyrinthen gleich, Texte und Bilder verknüpft und mehrfach spiegelt und dadurch das Nachdenken anregt, ja geradezu fordert.
Die zierliche Schriftart wird im ganzen Buch durchgehalten, sogar auf den (ebenfalls bebilderten) Seiten der beiden Biografien – wo immer man das Buch aufschlägt, ist es ein ästhetischer Genuss.
Die Stiftung „Rheinland-Pfalz für Kultur“ hat diese Kostbarkeit denn auch mit einem Projektstipendium ausgezeichnet.
Die gemeinsame Dichtung der beiden Autorinnen folgt zwei japanischen Vorbildern:
Das dreistrophige Renhai mit 3-2-3 Zeilen verfassten AH und GH nach strengem Schema Zeile für Zeile abwechselnd. Für alle, die sich näher für die Konstruktion interessieren, wird diese von den Autorinnen im Anhang erklärt.
Das Tan-Renga-Haiga besteht aus Bild und zweistrophigem Text (das Tan-Renga hat die Form des bei uns bekannteren Tankas, wird allerdings von zwei Haijin verfasst). Eine schattenhafte Spiegelung der zurückgenommenen Fotos verliert sich dem Tan-Renga entgegen. Eine weitere, noch schwächere Spiegelung unter dem Renhai auf der Gegenüberseite unterstreicht die thematische Einheit. Das mag kompliziert klingen, ist aber, wenn man es vor sich sieht, unmittelbar klar. Dazwischen taucht immer wieder eine Doppelseite mit zwei Renhai ohne Bild auf.
In diesem Buch kann man spazieren gehen wie in einem kunstvoll angelegten Garten, in dem Gedanken Blüten tragen. Daran rührt schon Holwegers Foto auf dem Einband, ein duftiges grünes Etwas, das an einen sehr stillen See gemahnt. Das ganze Werk – besser Kunstwerk – ist durchdrungen von einer Leichtigkeit und Poesie, die verbirgt, wie präzise es komponiert ist.