Gabriele Hartmann, 12 Foto-Haibun, farblich reduziert, nahezu schwarz-weiß …
Heft, Drahtbindung, 14,8 x 14,8 cm, 28 Seiten, 2022,
farbiges Außen- und Innencover
ISBN 978-3-945890-52-3, 9 €
Foto-Haibun
Was steht im Vordergrund: Foto? Haiku? Haibun?
Die Komponenten meiner Haiga – bestehend aus Foto und Haiku – habe ich wieder voneinander gelöst, diese Einzelteile mit Haibun – die sich zusammensetzen aus Kurzprosa und Haiku – kombiniert und nun entfalten sich alltägliche Geschehnisse zu ganz und gar nicht alltäglichen Momentaufnahmen.
Die Fotos erscheinen in Farbe und Ausdruck reduziert, verfremdet und erinnern doch mit Licht und Schatten an das, was uns bewegt.
Gabriele Hartmann
. und immer
. ist da (d)eine Hand
. die (ver)führt
2 Rezensionen!
Brigitte ten Brink schreibt:
Foto-Haibun – was soll man sich darunter vorstellen? Steht der Text wie bei einem Foto-Haiku oder einem Haiga im Foto, im Bild? Mitnichten! Gabriele Hartmann erfindet eine neue Methode der Komposition und arrangiert Foto, Haibun und Haiku auf eine, auf ihre, ganz spezielle Art und Weise. Sie löst das Haiku aus dem Haiga und kombiniert das Bild und das extrahierte Haiku mit einem Haibun, welches bekanntlich aus einem kurzen Prosatext und einem Haiku besteht.
Diese drei Komponenten treten in eine wechselseitige Beziehung zueinander. Jedes lässt sich mit jedem kombinieren, kann jedoch auch eigenständig und für sich genommen bestehen.
Die Bilder, von Gabriele Hartmann verfremdete, in der Farbgebung stark reduzierte Fotos, befinden sich im Wechsel mal auf der linken, mal auf der rechten Buchseite. Auf der jeweils anderen Seite stehen die Texte. Als erstes das Haibun und am Ende dieser Seite das aus dem Bild gelöste Haiku, einmal auch ein Tanka.
Es sind im Grunde alltägliche Geschichten, die Gabriele Hartmann auf ihre beeindruckende sprachliche Art erzählt. Es wird kein Wort zu viel gesagt. Es sind genau diese Worte, die es für diesen, von ihr eingefangenen Moment, braucht, damit sich die ganze Tragweite des Geschehens entwickeln kann.
stark
Die Tür steht offen. Im halbdunklen Flur schimmert ein gemaltes Schild: „Gemeinsam sind wir stark.“ Aus dem verwilderten Garten klingt Kinderlachen.
Hinter vorgehaltener Hand weiß einer: „Das Frauenhaus!“
12 Schläge
nah der Kirche
ein RKW
Mutters Gesangbuch abgegriffen das Hohe Lied der Liebe
Leise, zart und leicht, eben wie auf Zehenspitzen, kommt dieses Buch im ersten Moment des Blätterns und Anschauens daher, um dann beim Betrachten und Lesen eine Kraft zu entwickeln, die in den Bann zieht – magisch.
und immer
ist da (d)eine Hand
die (ver)führt
Mit diesem Haiku beschließt Gabriele Hartmann ihr Nachwort auf der letzten Seite des Buches.
***
und Rüdiger Jung schreibt:
Das Heft (14,8 x 14,8 cm) mit seinen 28 Seiten, 12 Fotos, 12 Haibun ist ein Kleinod. In ihrem eigenen Nachwort schreibt die Autorin:
„Was steht im Vordergrund: Foto? Haiku? Haibun?
Die Komponenten meiner Haiga – bestehend aus Foto und Haiku – habe ich wieder voneinander gelöst, diese Einzelteile mit Haibun – die sich zusammensetzen aus Kurzprosa und Haiku – kombiniert und nun entfalten sich alltägliche Geschehnisse zu ganz und gar nicht alltäglichen Momentaufnahmen. Die Fotos erscheinen in Farbe und Ausdruck reduziert, verfremdet und er- innern doch mit Licht und Schatten an das, was uns bewegt.“
Abgesehen vom Rot des Titelfotos, das die Außen- (und jeweils spiegel-„verkehrt“ die angrenzenden Innen-) Seiten beherrscht und an Leben und Verletzlichkeit zugleich gemahnt, sind die fotografischen Arbeiten in Schwarzweiß wiedergegeben. Das Auge nimmt grazile Strukturen war, die einen Grundeindruck fragiler Schönheit, verletzlicher Kostbarkeit evozieren. Haiku nehmen dieses Grundempfinden auf
Endstation
der letzte Waggon
abgekoppelt
Jahrestag noch immer vermag niemand die Leere zu füllen
Besonders nachhaltig harmonieren für mich das Haibun „Waldes-Ruh“, das Tanka „den ersten Schnee“ und das Foto der gegenüberliegenden Seite.
Waldes-Ruh
Auf Zehenspitzen schlendere ich von Baum zu Baum. Die angebrachten Nummern bedeuten, wessen Urne in welcher Richtung begraben wurde.
War da nicht ein Specht ?
den ersten Schnee
wollt ich malen – doch wieder
ist auf meinem Blatt
nur der Weg
den du verlassen hast
Ganz leise verorten „Urne“ und „begraben“ in der „Waldes-Ruh“ die Realität des Friedwalds. Das anschließende Tanka berührt durch den Versuch, Natur (genauer gesagt: „den ersten Schnee“) zu „malen“ und dabei über das eigene Empfinden von Abschied (genauer von Verlassen-, Zurückgelassensein) nicht hinauszukommen. „Verlassen“ bleibt dabei offen – zwischen
dem intentionalen aktiven Schritt im Leben und einer Bildlichkeit für den Tod.
Die Warnstufe „Melancholie“ auszurufen wäre gleichwohl verfrüht. Denn der Tod hat einen Widerpart: die Liebe!
auch auf dieser Reise
lehne ich dann und wann den Kopf
an deine Schulter
unsere Arche wir trotzen Wellen und Sturm
Abschließend möchte ich unser Augenmerk auf ein Haiku lenken, das nicht nur sehr berührt, sondern überdies sehr raffiniert gestaltet und voller Ambivalenz ist
Mutters Gesangbuch abgegriffen das Hohe Lied der Liebe
Ambivalenz und Raffinesse liegen mir besonders im zentralen Wort „abgegriffen“. Für sich genommen als äußerer Ausdruck der Abnutzung, des Verschleisses sicher negativ konnotiert. Als Ausdruck intensiver, liebevoller Nutzung hingegen aufs Nachdrücklichste rehabilitiert.
„Mutters Bibel“ hätte zwei Deutungen zugelassen: das alttestamentliche „Hohe Lied der
Liebe“ als einen erotischen Text sui generis, der geistlich umgedeutet wurde. Oder aber das Hohe Lied der Liebe des Apostels Paulus im 1. Korintherbrief, Kapitel 13. Letzteres begegnet im EKG auch in dem ihm vorangegangenen EKG auch in Liedform: „Ein wahrer Glaube Gotts Zorn stillt“. Wenn man so will, die „Lesart“ fürs „Gesangbuch“!