„vom gleichen Blau …“, Gabriele Hartmann
Haiku aus 2016, Band 2
Ringbindung, A6 quer, 100 Seiten, 2017, ISBN 978-3-945890-19-6
Rezension Rüdiger Jung
Das gefällt mir so an den Haiku von Gabriele Hartmann, dass sie an das Gängige, Unwidersprochene ihre leisen poetischen Fragezeichen heftet:
Jahrhundertsommer
erinnert sich einer
Wer bitteschön hat diese hohe Warte für solch ein Wort? Unter den deutschsprachigen Haiku-Dichtern allenfalls Gottfried W. Stix, der mit vollem Recht eines seiner letzten Bücher titeln konnte: „Im Licht von hundert brüchigen Jahren”. Erinnerung – ein brisantes Thema in der verstetigten Gegenwart des Haiku:
früher
sagt sie
er nimmt die Brille ab
Brille abnehmen und Augen schließen mögen auf das Erinnern hinauslaufen, ein Schweigen der äußeren Bilder, das die inneren, aufbewahrten wach werden lässt. Aber auch das Paradoxe hat seine eigene Weisheit. Brille abnehmen kann meinen: „schlechter sehen“, gewiss. Aber: hat das Abnehmen der Brille vielleicht nicht auch da seine Berechtigung, wo es um die Zeit vor der Brille und ihrer Notwendigkeit geht? Meinungen und Vorlieben können auseinandergehen – etwa zwischen Gleichmaß und Veränderung:
rostige Kufen
alles ist, sagt er
doch genau wie immer
Das Vertraute scheint eine Rolle zu spielen im Konfliktfall – als Rückzugsort?
dicke Luft
ich öffne mein Buch
an der alten Stelle
Literatur als Rückzugsort? Zumal in einer Kurzgedichtform, die sich in ihrem Ursprung der Natur verschwistert weiß? Eine fade Idyllik, die nicht zieht:
Vorgärten
zwei gestehen sich
ihren Hass
geköpft
des Rektors
Schwertlilien
Das Kind mit dem Bade ausschütten wird es nicht bringen. Das gibt es schon, dass die Natur, naturgemäßes Leben ein Stück Frieden zu schenken vermag:
kürzere Tage
er schneidet die Äpfel
nach Bauernart
Freilich hat die Natur ihre eigenen Gesetze, allen voran die Vergänglichkeit, die zumal der japanischen Poesie immer schon den Beiklang einer leisen Wehmut gegeben hat:
Metamorphose
ihre Puppen
tragen Trauer
Die Metamorphose der Schmetterlinge grundiert ein ganz eigenes Bild des Abschieds: das Imago, das voll entwickelte Insekt, hat die Puppenhülle abgestreift, breitet die Flügel zum Trocknen aus, fliegt davon. Die Puppenhülle bleibt zurück, ist nicht mehr Leben, nur noch Hinterlassenschaft:
So anrührend er sein mag: der normale Wechsel von Werden und Vergehen rührt nicht an die Gefährdung heran, der sich die ganze Umwelt im Anthropozän ausgesetzt sieht:
menschenleer
das Glas des Barometers
zerbrochen
Die Zukunft ruckt damit so fern, wie sie es – bei Lichte besehen – in der Dichtung der reinen Gegenwart immer schon war:
wolkenverhangen
die fernen Gipfel
Dichtung bleibt – und genau da liegt ihre Wehmut! – das paradoxe Unterfangen, zu halten, was nicht zu halten ist:
wirbelnde Blätter
wie kann ich sie
halten
Die Naturwissenschaft weiß seit Einstein um die Möglichkeit, dass der lineare Zeitstrahl seinen Lauf auch ändern könnte. Warum nicht Zen-Koan sein muss, was nach Zen-Koan klingt:
dem Flusslauf folgen
frage mich
was morgen war
Rüdiger Jung