„Maske“, Gabriele Hartmann, 16 Haibun
handgearbeitetes Miniaturbuch mit Lesezeichen, A6 , 20 Seiten, 2016
Rezension Rüdiger Jung
Eine schmale, wunderschön gestaltete Ausgabe, die literarisch Maßstäbe setzt. Denn Gabriele Hartmann ist eine Meisterin im Haibun. Keine Spielereien (im despektierlichen Sinne des Wortes), sondern Texte, die einen angehen, interessieren, in Beschlag nehmen. „Seid ihr neu in dieser Welt?“ fragt das Mädchen in „Begrüßung“ (S. 4). Sag Ja und schau dich um! Es lohnt!
„nichts“ (S. 2) hat drei Abschnitte und drei Ebenen. Die erste erinnert an eine Gedenktafel für deportierte jüdische Kinder und Erzieherinnen in der NS-Zeit. Die zweite an die eher private Not eines Vaters, dessen Kinder sich (warum und mit welcher Berechtigung auch immer) beschweren, vernachlässigt zu werden. Die dritte besteht aus dem abschließenden Haiku, das mit jedem verlockenden Ästhetizismus bricht:
stolpern
die Sterne gar nicht mehr
schön
Die große Herausforderung an ein solches Haibun: ungeachtet des Wechsels der Ebene die Fallhöhe des Beginns zu halten. Das Kunststück gelingt.
Unmittelbar berührt auch „Kurrent“ (S. 5): im Blickfeld eine Nachbarin mit offensichtlichen Anzeichen von Demenz: dem vergessenen Tür-Code ist da auch mit dem vermeintlich hilfreichen Hinweis auf ein so persönliches Grunddatum wie dem Hochzeitstag nicht mehr beizukommen.
„die Reise“ (S. 15) verquickt im Straßenverkehr einen der letzten Arbeitstage vor dem Ruhestand mit der Situation eines Bullen, dem der Schlachthof bevorsteht. So unterschiedlich die Grade existenzieller Bedrohung auch sein mögen: zu einer Bagatellisierung und Verharmlosung kommt es nicht.
Die kurz porträtierten drei Texte finde ich herausragend, aber das heißt nicht, dass sich für andere Leser nicht ganz andere Texte anbieten, „anzudocken“. Meine Erfahrung gerade mit Haibun ist die, dass der eigene persönliche Hintergrund eine wichtige Rolle spielt bei der Frage, ob ein Funke vom Text überspringt. Eindrücklich etwa auch bei „Glorien“ (S. 7) der genaue Blick auf die Träger nach einem Begräbnis.
In „Unbekannte“ (S. 13) wird ein Dichterzitat zum entscheidenden Schlüssel für eine prägende eigene Kindheitserinnerung.
Rüdiger Jung