„Knoten im Kopf“, Brigitte ten Brink und Gabriele Hartmann, Doppel-Rengay und Tan-Renga sowie sowie 13 Haiga (schwarz-weiß),
Softcover 16 x 16,5 cm, 2018, im Verlag „edition federleicht“, FFM von Karina Lotz, ISBN 978-3-946112-10-7

Rezension Rüdiger Jung

Zwei kongeniale Autorinnen haben sich da zusammengetan und im Verlag der literarisch ambitionierten und engagierten Karina Lotz ein funkensprühendes Meisterwerk vorgelegt: 14 Doppel-Rengay und 26 Tan-Renga, von denen eines (auf der Buch-Rückseite) die 13 Tan-Renga-Haiga ergänzt. Doppel-Rengay sind – was das Regularium betrifft – eine alles andere als leichte Kost. Leser und Leserin holen sich Mut in der selbstironischen Warnung der Einleitung: „Werden Sie beim Lesen bitte nicht schwindelig!” (S. 5).

Nicht Sklavinnen, sondern Virtuosinnen der Form beherzigen die eigene

„Warnung / vor Missverständnissen / in der Spielanleitung” (S. 23).

Beiden Autorinnen eignet im Kopf ein weites Land. Da wohnt die Literatur: „Kinskis Buch” (S. 7), Bernhard Schlinks „Vorleserin” (S. 15), Aldous Huxleys „schöne neue Welt” (S. 47). Da wohnt die Musik, namentlich Pop und Rock: „Death Metal Konzert” (S. 13), „Wild Horses / Gino Vanellis / alte Nummer” (S. 37), „Paint It Black” von den Rolling Stones (S. 47), Bob Marleys „No Woman No Cry” (S. 55), schließlich „You Want It Darker” des späten Leonard Cohen (S. 56). Da wohnt die Malerei, namentlich des Impressionismus („Monets Seerosen”), Post-Impressionismus und Pointillismus („wie hingetupft der Park von Asnieres”) (S. 51). Da begegnet die Astronomie („Kepler-452b”, S. 57) und – mit schillerndem Wortsinn – die Mathematik („Mandelkern”, S. 11). „Einfach märchenhaft” (S. 51) schimmert ein Motiv immer wieder durch: „zwei blitzende Kugeln” (S. 39), „goldene Kugeln” (S. 51), „das Glück / in einer Kugel” (S. 43). Wer im letzten Zitat die Idealform der Platonischen Körper erkennt, wird auch von „Kants Imperativ” (S. 41), dem kategorischen‚ nicht mehr überrascht. Ethischer Bezugspunkt wird die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments, wenn Jesu Wort (Joh. 8‚ 7) negiert und der erste Brudermörder der Bibel, Kain (Gen. 4, 8), zum Prototyp des modernen Menschen wird (S. 47). Assoziationen lernen das Tanzen („versunken”, „Bermudas”, S. 31), und poetische Mehrdeutigkeit feiert fröhliche Urständ („mit ’nem Sprung / gerettet – Großvaters / Lieblingstasse”, S. 31). Der magische Sprung von 24 Uhr auf 0 Uhr, der schon den späten Günter Eich der „Maulwürfe” beschäftigt hat, wird Thema – mit einer wahrhaft adäquaten Wendung: „Äquinoktium / er wendet / den Pfannkuchen” (S. 19). Ein Motiv, das übrigens in dem Tan-Renga „der zwölfte Schlag” (S. 33) neuerlich aufscheint.

Als Beleg der großen atmosphärischen Dichte im poetischen Miteinander sei die untere Hälfte von „vertauschte Namen” (S. 15) zitiert:

Hexen schleichen
von Haus zu Haus
vertauschte Namen

Gutenachtgeschichten
langsam wird es dunkler

und dunkler
unterm Bett das Messer
zum Traum

(GH / BtB / GH)

In dem Rengay „über Grenzen” (S. 35; linker Teil des Doppel-Rengay, das dem Buch den Titel gab) wird der faszinierende Mythos der minoischen Prinzessin Ariadne in Szene gesetzt:

Knoten im Kopf
der Anfangsfaden
unauffindbar

die Erstgeborene
nennen wir sie Ariadne

verlassen am Strand
das Eheversprechen erfüllt
ein anderer

(BtB / GH / BTB)

Einzig der Faden der Ariadne hatte es dem griechischen Helden Theseus ermöglicht, in das sprichwörtliche Labyrinth hinein- und wieder herauszufinden, nachdem das Ungetüm Minotaurus erschlagen war. Gedankt wurde Ariadne der rettende Einfall von Theseus nicht. Sitzengelassen erfüllt ihr „das Eheversprechen (…) ein anderer”: Dionysos, der Gott des Weines und des Rausches. Solch ein Motiv prägt sich ein, und unwillkürlich liest man es mit, wenn es später an anderer Stelle heißt „hoffnungslos verheddert / der rote Faden” (S. 43).

Auch in den Tan-Renga sind die Autorinnen unterwegs, andere, vielleicht auch verdrängte, Seiten ihrer selbst zu entdecken:

altes Tagebuch
ich blättere in einem
anderen Leben

und kann die Natur des Bösen
nicht länger verleugnen
 
(S. 33, BtB / GH)

Keineswegs aber sind sie so mit sich selbst beschäftigt, dass ihnen entginge‚ wo es buchstäblich „brennt”:

braune Schollen
wieder brennt eine
Flüchtlingsunterkunft

nach all den Jahren
die Neuauflage

(S. 9‚ BtB / GH)

Zum Haiku gehört die Offenheit:

erst die Leserin / der Leser schreibt es auf dem Wege der Lektüre und Meditation fertig. Mir fällt auf, dass auch der zweite Vers des Tan-Renga (Ageku, vgl. S. 61) oftmals diese Offenheit aufweist. Und dann entscheidet die Sympathie oder Aversion, die dieser zweite Vers bei mir weckt, darüber, wie ich die gesamte Szenerie bewerte. Zwei Beispiele:

die sonntägliche Stille
alter Dörfer
zu verkaufen

er sagt: im Winter
schneien wir hier ein
 
(S. 16, GH / BtB)

Das kann als Idylle faszinieren. Und gleichzeitig – der Abgelegenheit wegen – abschrecken.

eingeschlossen
im Labyrinth
der Bücher

feilen … seine Worte
immer noch nicht glatt genug

(S. 32, BtB /GH)

Das kann die Sympathie des Taoisten wecken, der gerne die langsamen, beharrlichen Kräfte dieser Welt am Werk sieht. Oder aber ich verbinde dieses unentwegte Feilen mit Opportunismus und Windschnittigkeit. In den Tan-Renga klingen beide Spezifika der fernöstlichen Poesie an: die Einfachheit – und die Tiefe:

Spinnenfäden
was uns trennt
was uns eint

Tautropfenglitzern
im Morgenlicht
 
(S. 57, GH / BtB)

Die Ko-Autorinnen haben sehr viel Sensibilität, sehr viel „Witz” für Sprache:

Marias Gewand
wie blau war es in
Wirklichkeit?

Ives Klein geht
in Berufung
 
(S. 29, BtB / GH)

„In Berufung gehen” ist der Grundgestus von Einspruch und Protest. Zugleich kann die „Berufung” als Bezugnahme und mithin Verstärkung einer Tradition sich als Akt durchweg affirmativen Charakters erweisen.

Eindrücklich für mich, wie die beiden Autorinnen beides gegeneinandersetzen: den Wunsch, der Zeit zu entrinnen – und ihre Unentrinnbarkeit. Die Vergänglichkeit und die Wehmut, die sie auslöst, grundieren schon die japanische Poesie, die hier Pate steht:

Belcanto
wenn die Zeit doch einfach
still stünde …

aus seinen Händen
rieselt Sand
 
(S. 53, BtB / GH)

Zwischenmenschlich bedingt das Diktat der Zeit den großen Rollentausch:

blondes Stoppelfeld
ach, früher … hast du mir
das Kinn zerkratzt

Vaters Hand halten
wie die meines Kindes
 
(S. 21, GH / BtB)

Allenfalls gemeinsam können wir uns der Vergänglichkeit erwehren. Das Zauberwort heißt Solidarität:

diffuse Worte
ihre Hände
finden sich

versunken
in Mutters Erinnerungen
 
(S. 8, GH / BtB)

„Diffuse Worte” stehen für das demenz-bedingte Versiegen einer gelingenden verbalen Kommunikation. Was bleibt, ist die Berührung, die Zärtlichkeit („ihre Hände / finden sich”) – ohne jede Macht und Möglichkeit, es sei denn jene geteilter Ohnmacht. Tochter oder Sohn weiß oder glaubt zu wissen, wo die „Mutter” ist: in ihren „Erinnerungen”. Spezifizieren lässt sich das in Ermangelung einer tragfähigen sprachlichen Brücke nicht mehr. Nur ein Weg führt Tochter oder Sohn noch zur Mutter: das Zulassen des eigenen „Versinkens”. Ein Bekenntnis der Ohnmacht, gewiss. Mehr noch eines der Solidarität.

Rüdiger Jung

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Gepostet am

21. Februar 2018