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„all in!“, Gabriele Hartmann, Haiku im Kontext
Ringbindung, A6 quer, 156 Seiten, 2014

Rezension Rüdiger Jung

Die klassische japanische Lyrik zitiert japanische, auch chinesische Lyrik, die teilweise Jahrhunderte alt ist. Eine klassisch gebildete und geschulte Leserschaft hätte auch nur einen Gedanken an Plagiat niemals zugelassen. Das Zitat wiederum wird zur Kunst, wenn es das Bekannte nicht nur erinnert, sondern modifiziert, ihm neue Nuancen abgewinnt.

Gabriele Hartmanns „Kontext-Haiku“ bewegen sich mithin auf sicherem Gelände. Die Frage, was erst war, Huhn oder Ei, Kontext oder Haiku, stellt sich allenfalls dem Dilettanten. Die Autorenschaft des Kontextes ist – soweit möglich – jeweils namentlich kenntlich gemacht. Als ein Drittes tritt der Titel hinzu – mal näher am Haiku, mal näher am Kontext, nicht selten zu beidem in kreativer, belebender Distanz. Es macht wieder und wieder Spaß, sich darauf einzulassen. Zumal sich im Nebeneffekt Klassiker und ihre Aphorismen mehr und mehr einprägen. „all in!“ lese ich als fröhliches „Hereinspaziert!“ Aber auch als: hier hat alles seinen Raum, hier findet alles seinen Platz!

      Spiegel

      Kopfsprung?
      mein Doppelgänger im See
      zieht die Stirn kraus

Manchem Freund der Gebrüder Grimm und ihrer Märchen ist es jetzt geben, die Welt vom Kopf auf die Füße zu stellen:

      Prinz

      Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet.      (Christian Morgenstern)


      Moderfäule
      im Auge der Kröte
      Glanz

Ganz so albern ist er also gar nicht: der Wunsch der Mädchen in „Ferien auf Saltkrokan“, den Prinzen wieder zum Frosch zu küssen.

Bei gewachsener Boden indes reizt es mich, Titel und Kontext wegzulassen und mich ganz dem Haiku hinzugeben:

      Sandkastenliebe
      der Sohn des Eisverkäufers
      in festen Händen

Ich fürchte sehr, man muss sich von Anfang an Sorgen um ihn machen. Mir zumindest scheint er gefährdeter als eine Millionärstochter …

Bei der Prioritätenverschiebung lasse ich den Kontext außen vor, um es nur um so mehr mit dem Titel zu halten, der im vorliegenden Fall temporal zu verstehen sein dürfte:

      gute Vorsätze?
      die fasse ich
      morgen

Restlos d’accord, aber ein Paradoxon wirft sein unerbittliches Lasso.

Der Vorsatz, gute Vorsätze morgen zu fassen, wird eindeutig heute getroffen. Ist er dann doch kein guter? Vorschlag zur Güte, mit Till Eulenspiegel und dem Baron von Münchhausen abgestimmt: Schlafen wir eine Nacht darüber und freuen uns dann, dass es schon morgen und nicht mehr heute ist …

      Königinnen

      Bienenkörbe
      in der Thronfolge
      übergangen

Dass man ihnen einen Korb gegeben hat, ist für diese Bienen wohl nicht das Schlimmste. Wir bewegen uns im Kreis der Prinzessinnen, allesamt mit Gelee royale genährt, folglich allesamt „etwas“, keine „nichts“. Aber nur eine kann Königin werden. Makaberer Trost für die andere: „in der Thronfolge übergangen“ zu sein, wird sie nicht lange quälen, es gibt nur Sieg oder Tod.

      Halt

      Das Lächeln eines Menschen ist ein Fenster im Gesicht, das anzeigt, dass ein Herz daheim ist.       (unbekannt)

      Gummiband
      ich kenne Ihre Stimme
      sagt Mutter zu mir

Ein wunderbares, zutiefst menschlich anrührendes Kontext-Haiku, das mir sagt, daß auch Demenz die dem Haiku vorangestellten Kontext nicht außer Kraft setzt: ein „Halt“, fürwahr!

      Fabelhaft

      Der Mensch, der nichts gelernt hat, altert wie ein Ochse. Sein Fleisch nimmt zu, sein Wissen nicht.       (Dhammapada)

      Bild oder Express?
      zwischen zwei Heuhaufen
      der nackte Affe

Glücklicher Dhammapada, dem „Bild“ und „Express“, Skylla und Charybdis jeden Kiosks, nichts anhaben können. Bei Gabriele Hartmann treffen die unverwüstlichen Boulevard-Zeitungen auf die philosophische Mär von Buridans Esel, der sich, gleich weit entfernt von zwei Heuhaufen, deren jeder ihn satt gemacht hätte, nicht entscheiden kann, sondern verhungert. Die Alternative „Bild oder Express?“ ist weniger dramatisch; weder links noch rechts wird „der nackte Affe“ satt …

Bei Umnachtung fängt ein großes Haiku zu leben an, wenn ich es von Titel und Kontext und beider Wertung befreie:

      gekippte Flügel
      im Traum
      der dunkle Spalt

Im folgenden Fall bewege ich mich vom Titel zum Haiku zum Titel zurück und nehme den Kontext als „Sahnehäubchen“:

      Meister

      Für das Können gibt es nur einen Beweis: das Tun.       (Marie von Ebner-Eschenbach)

      Trickdiebstahl
      im Schnabel des Eichelhähers
      der Mond

Schließen möchte ich meine Betrachtung eines wahrlich bemerkenswerten Buches mit einem Kabinettstück:

      Satisfaktion

      Fühlst du dich von jemandem beleidigt, so stellst du dich geistig unter ihn.       (östliche Weisheit)


      ein neuer Hut
      mein Hund
      wendet sich ab

Dem wird nur eine sorgfältige dialektische Betrachtungsweise gerecht. Die „Satisfaktion“ lässt sich einigermaßen punktgenau mit „Genugtuung“ übersetzen – und muss hier glücklicherweise nicht im Rahmen eines Duells verortet werden. Entscheidende Frage im Sinne des Kontextes: Wer fühlt sich hier beleidigt – und von wem? Die Herrin vom Hund, weil er den neuen Hut nicht zu schätzen weiß? (ignoranter Waffi?) Der Hund, der angesichts des neuen Hutes offenbar Zweifel hat, ob Frauchen weiß, was sich für das gemeinsame Gassi-Gehen gehört? Stellen wir uns der kritischen Frage ohne biologisches Vorurteil (à la Artgenossin vor Waffi)! Das heißt was? Dass sich der Fall ohne eingehende Kenntnis des neuen Hutes schlicht und einfach nicht klären lässt!

Rüdiger Jung


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Gepostet am

5. Juli 2013