In großen Zügen

„In großen Zügen …“, Briefanfänge, Georges Hartmann
Softcover, Fadenbindung, Cover 4-seitig bedruckt, 12,5 cm x 19 cm, 96 Seiten, 5. Auflage 2020, ISBN 978-3-945890-02-8

Vorwort Georges Hartmann

Manchmal bekommt man Flöhe ins Ohr gesetzt, die sich dann irgendwann unwiderruflich einnisten und nicht mehr zu vertreiben sind. „Du schreibst so interessant“ war so ein Lob, das ich stets abwiegelte, bis ich‘s dann irgendwann selbst glaubte und darauf immer mal wieder antwortete: „Na ja, ich könnte ja darangehen und einige meiner die Briefe oder E-Mails einleitenden Passagen zusammenstellen.“ Den Satz habe ich dann jedem aufgetischt, wenn zur Sprache kam, dass mein Geschreibsel irgendwie „anders“ sei, was dann stets mit einem aufmunternden „Mach mal!“ kommentiert wurde. Die Aufforderung an sich habe ich dann stets als nicht mehr steigerungsfähige Anerkennung empfunden, es bei der Absichtserklärung bewenden lassen und Ruhe war im Karton.

Und plötzlich war da Ralf Bröker, der gefragt hat, ob ich ihm denn nicht mal ein paar solcher Einleitungen zusammenstellen könnte, weil er das gern mal lesen würde Das erschien mir zunächst unverfänglich, weil, wenn sich das jemand freiwillig und eher neugierig antut, ist das ja mehr was persönliches und nichts, das an die große Glocke gehängt wird. Nach Tagen dann sein Anruf, dass er sich der Sache annehmen und die Texte als Mann vom Fach soweit erforderlich redigieren würde, wenn ich damit einverstanden wäre. Ich könnte mir dann ja immer noch überlegen, ob ich ein Buch draus mache, was via Internet keine große Sache sei und kostenmäßig überschaubar bliebe. Und dass er sich freuen würde, wenn er davon ein Exemplar mit einem ansprechenden Cover als Gegenleistung für seine Arbeit bekäme. Derart geschmeichelt stimmte ich zu.

Über ein Jahr lang war ich unschlüssig, habe die einzelnen Passagen immer wieder überflogen, manche für entbehrlich gehalten, das ein oder andere nicht mehr verstanden und bei zweien tatsächlich das Gesicht zu einem Grinsen verzogen. Aber sollte ich das wirklich als Buchausgabe drucken lassen?

Und wieder war es der Initiator, der einfach nicht locker ließ und den einzelnen Absätzen Überschriften verpasste, so dass ich nach einer Ewigkeit an verbratener Bedenkzeit nun tatsächlich druckfrische Exemplare auf dem Tisch liegen habe. Ich bedanke mich hiermit bei meinem mich unermüdlich ermunternden Fan. Ohne ihn wäre aus dem „… ich könnte ja mal …“ für immer ein Papiertiger geblieben und vielleicht sagt sich jetzt auch der Leser, dass dies besser gewesen wäre …

Georges Hartmann

Rezension Gerd Börner

In der Villa Winkel in Ochtrup – die Deutsche Haiku Gesellschaft feierte 2013 ihr 25-jähriges Bestehen – las ihr Präsident, Georges Hartmann, aus seinem Buch „In großen Zügen“. Wir alle kennen seine humorvollen Haiku und seine wunderbaren Editorials zum Sommergras. Von seinen Briefanfängen war ich sofort begeistert und wollte das Buch kaufen. Aber der Autor hatte keine weiteren Exemplare seines Buches mitgebracht – sein „Geschreibsel“ sei nun wirklich nicht interessant …

Ist Georges Hartmann ein Meister oder ein Gaukler des Understatements? Oder aber beschreibt dieser männliche Blindgänger mit heulendem Herzen seinen täglichen Absturz aus dem vom Nichts erfüllten Nirwana durchs Ozonloch ins hiesige Jammertal, in eine Welt also, die er in großen Zügen zum Kotzen findet?

Ist Georges Hartmann in Wirklichkeit nichts weiter, als ein total einfach strukturierter Mehrzeller, der sich bei seiner Seinswerdung vermutlich in der Wirtsfamilie „Mensch“ geirrt hat und dessen Leben er nur als Materie-Rülps auffasst oder ist er dieser leise, sensible aber wortgewaltiger Mensch, den wir alle lieben und der es trotz einer andauernden Hängepartie seines Verstandes schafft, leere Seiten mit brillanten Texten zu füllen? Um das zu beantworten – ich hoffe Georges Hartmann sieht es mir nach – möchte ich das wuchernde Unkraut auf seinem literarischen Gewürzbeet hier als selten kostbare Wildkräuter zu einem Strauß binden:

Wie ein Haufen Elend glotze ich starren Blicks Löcher in die Dunkelheit. Im Gehirn werden aus lauter Trostlosigkeit Schubladen geöffnet, aus denen unablässig Gedankenmüll drängt, den es umgehend zu entsorgen gilt, will man nicht davon erstickt werden. Während ich in altgewohnter Manier das Kugelschreiber-Endstück mit den Backenzähnen traktiere, zum wiederholten Mal die Büroklammern zähle und mit ihnen zu sprechen beginne, kommen mir leichte Bedenken meiner psychischen Gesamtkonzeption. Der Kopf tuckert wiedermal völlig lustlos im Leerlauf und ich habe gerade drei Sätze aufs Papier gewürgt – unverständliches Wortgulasch eben, das hintereinander gelesen mal wieder keinen Sinn ergibt und selbst dem Begriff von moderner Kunst lauthals widerspricht. Es ist das Grauen, das durch die Katakomben meines Bewusstseins schwingt. Wenn der Novembernebel giftig in mein Herz tropft, sitze ich wie ein schlaffer Sack am Schreibtisch, den Kopf in die Hände gestützt und grübele dem Leben hinterher, dass mich der Jammer wie eine Allergie befällt. Meine einstmals hochtrabenden Ideen hängen leichenstarr im Geäst eines wenig beachteten Laubbaums und mein Selbstbewusstsein wirkt derart ramponiert, als wäre es dem Mike Tyson in einen rechten Haken hineingestolpert. Schon nach zwei Wörtern denke ich in der Regel acht Leerstellen und die armseligen Reste der vom Schicksal gebeutelten Denkzellen irren in panischer Angst durch das farblose Labyrinth der Gehirnwindungen. Die erhoffte Goldader würde sich garantiert als morastiger Untergrund entpuppen, der nach einem neuen Opfer gierte, das er zur Moorleiche verarbeiten könnte. Während ich aber immer wieder an der Engstelle zwischen Groß- und Kleinhirn wie der ärmste Schlucker auf einen sich verirrenden Gedanke lauere, krachen in der Schaltzentrale mal wieder alle Sicherungen durch, was wohl für längere Zeit der letzte Lichtblick gewesen sein dürfte – und ich habe knapp am Kabelbrand vorbei gegähnt.

Dem Menschenfreund, Georges Hartmann, geht es aber in seinem Buch nicht nur darum, in witzigen Wortschöpfungen und Formulierungen Verwirrtexte zu konstruieren, die er beim Durchlesen selbst nicht mehr versteht, sondern auch darum, menschliche und gesellschaftliche Unzulänglichkeiten zu glossieren. In „Eiskalte Cola“ geißelt er die Werbung, das neue Schlachtfeld der Geschlechter: Frauen – erst ausgezogen, dann bloßgestellt und am Ende abserviert. Wir Zuschauer wagen aus gesicherter Beobachtungposition gerademal einen waghalsigen Blick durchs Schlüsselloch auf die Realität der Dinge und üben uns aber sonst in Verdrängung und im Lifestyle alter Knacker. Menschliche Schwächen macht er immer zuerst am eigenen Erleben fest und schimpft sich einen grässlichen Alten, der mit nartikulierten Kehlkopflauten und voller Gier auf das blickt, was ein junger Mann gerade ungekünstelt knetet.

In großen Zügen beklagt Georges Hartmann die unsichtbaren Schützengräben zwischen den Menschen und schaudert vor den Generälen Neid, Missgunst, Intoleranz und soziale Kälte, die uns noch viel zu oft ins Gefecht schicken. Kotzelend wird ihm, wenn er sich vorstellen muss, dass am Rande des Karnevals in Rio Kinder Zeitungspapier in Wasser einweichen, um dieses Gemisch als Papiersuppe herunter zu würgen, in der Hoffnung, dass es im Magen weiter aufquillt und so ein gewisses Sättigungsgefühl hervorruft. Aber für Hartmann ist die Problematik des helfen Wollens, dieses aber konkret nicht zu können, auch irgendwie gelebte Hilflosigkeit.

Nachdem ich wiederholt in kleinen Zügen und mit großem Vergnügen seine Briefe gelesen habe, weiß ich, dass der Stern Hartmann nicht nur für einen Hopser hochgestiegen ist, und ich bin verdammt sicher, dass sich alle Leser mit Genuss in die Briefanfänge hineindenken und sich an die Gestade seiner Wortgewalt treiben lassen werden, um am Ufer der letzten Erkenntnisse von seiner grandiosen Kunst des Schreibens endgültig vor Anker gehen zu können.

     an den Fensterscheiben
     laufen dicke Tränen hinab,
     der Himmel heult
     über sein aschgraues Aussehen
     mit dem Wind um die Wette

Gerd Börner

Rezension Rüdiger Jung

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
                  Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wohl keiner hat den Reiz der Anfänge, des Beginnens so faszinierend und bezwingend ausgesagt wie Hermann Hesse in seinem berühmten Gedicht „Stufen“. Wie viele Gedichte leben von einer starken Eingangszeile, die selbst dann noch trägt, wenn das Gedicht als Ganzes nicht halten sollte, was es vollmundig versprach. Einen Roman zu beginnen ist eine Kunst: wer sie nicht beherrscht, wird auf Dauer den Leser nicht fesseln können.

Im vorliegenden Fall geht es um keine primär literarische, eher um eine primär persönliche Form von Text und Kommunikation: den Brief. Den Brief, den ich gemeinhin dazu nutze, mir und zumindest einem anderen Aufschluss zu geben – über mich, über Gott und die Welt. Ralf Bröker ist die Initiative zu diesem Buch zu danken. Er hat das Literarische im Persönlichen aufgespürt und sich dabei vom Zauber der Anfänge tragen lassen.

Und er hat einen Kunstgriff vorgenommen: indem die Briefanfänge Titel erhielten, wurden sie etwas ganz Eigenes, Literarisches. Die Textsegmente sind in sich abgeschlossen. Weshalb das Faible, das im Zeitalter der Romantik für die Form des Fragments aufkam, bei der Aufschlüsselung dessen, was den Reiz der Hartmann‘schen Texte ausmacht, eher nicht weiter trägt – sieht man einmal von dem Textschnipsel ab, das in die Titelgraphik integriert ist:

                                     traum, Zeit:
                                                      mit
                                             bringen

Der Titel „In großen Zügen …“ deutet auf die Freiheit hin, die gerade die private, freundschaftliche Kommunikation gegenüber der „öffentlichen“, literarischen genießt: sich nicht im Klein-Klein verlieren zu müssen. Das schreibende (erst einmal denkende und empfindende) Ich wird sich selbst zum Thema. Wenn dem Leser eines im Besonderen Sympathie abringt, dann ist es die Selbstironie, die diesen Prozess unausgesetzt begleitet, mehr noch: dirigiert.

Gerade unter den konzentriertesten Texten finden sich kleine, gewitzte Juwelen betrachtender Prosa: „Knapp vorbei“ (S. 6), „Spuren“ (S. 12), „Anfang“ (S. 46).

Dass dem Autor gegeben war, ein (tatsächlich Fragment gebliebenes) Romanprojekt mit Mario Fitterer anzugehen, leuchtet nunmehr vollends ein. In einer Sprache, die ebenso fordernd wie gewinnend ist, sind die beiden einander kongenial. Wobei mir Fitterer noch dezidierter intellektuell, Hartmann um eine Nuance „welthaltiger“ erscheint. Abschließend eine kleine Anthologie meiner „Lieblingsstellen“.

Sie versammelt – so viel Spaß und Dialektik muss sein! – die Schlüsse der Anfänge:

Hoppla, glaubt denn Sisyphus tatsächlich, dass ich diesen Brief endlos von vorne beginne, um am Ende ebenfalls festzustellen, nie ans Ziel zu kommen? Ich bitte somit um Nachsicht, diesmal etwas als Anfang zu belassen, das eigentlich eher mein schöpferisches Ende zum Ausdruck bringt.
(S. 11, „Als Anfang zu belassen“)

Aber was zählt schon die Summe der Strapazen – vom Pferd gebissen worden, knöcheltief im Schlammloch versackt, rückwärts aus dem Kuhstall geschlichen, weil mich der Genossenschaftsbulle „Ferdl“ mit dem obligatorischen Ring durch die Nase blutrünstig anschnaubte usw. – wenn du am Ende mit einem Dankgebet auf den Lippen wieder wohlbehalten am gedeckten Tisch in der Kneipe hockst und dich dem Glücksgefühl hingibst, das Gipfelkreuz berührt zu haben?
(S.19, „Ring in der Nase“)

„Nein, nein“, meldet sich ein am gleichen Tisch sitzender Germanist, „die versteckte Botschaft liegt ganz konkret in der mittleren Zeile, wo in unmittelbarer Folge zweimal die Silbe urz zu lesen ist. Ich überlasse es eurer Phantasie, daraus die richtigen Schlüsse zu zieh’n.“
Von der Theke höre ich den Wirt mit sonorer Stimme rufen: „Hab ich ewe rischtisch geheert, ihr krieht noch drei Äppler?“
(S. 22, „Richtig“)


Rüdiger Jung


Fähigkeiten

Gepostet am

5. August 2014